: Alte Kämpfer und neue Mullahs
Viele paschtunische Flüchtlinge aus Afghanistan stehen vor der Wahl, sich den Taliban anzuschließen und in ihre Heimat zurückzukehren oder im pakistanischen Exil zu bleiben ■ Aus Peschawar Christian Kreutzer
Das Hobby von Turan Abbas sind Vögel. Im rötlichen Abendlicht steht er auf dem Flachdach seines Hauses in der pakistanischen Stadt Peschawar. Wenige Meter über dem Kopf des afghanischen Flüchtlings zieht ein Taubenschwarm enge Kreise. Um seine Haustauben zu kennzeichnen, hat Abbas kleine Glöckchen an ihren Krallen befestigt. Pfeifend und in die Hände klatschend, steht er inmitten von all dem Klingeln, Flattern und Gurren. Langsam dreht er sich um die eigene Achse und folgt aufmerksam dem Flug des Schwarms.
Neben seinen Wellensittichen, Kanarienvögeln und Nachtigallen sind es vor allem die Tauben, die dem ehemaligen Mudschaheddin- Kommandanten Freude machen. Schließlich läßt er sie zur Ruhe kommen und lächelt stolz. Vor Jahren, im „Dschihad“, dem Krieg gegen die russischen Besatzer Afghanistans, befehligte er eine Schar von Mudschaheddin. Doch der Krieg, den die ehemaligen „Freiheitskämpfer“ seit 1992 gegeneinander führten, war alles andere als heilig. Abbas, der den militärischen Titel Turan (Oberst) auch jetzt beibehält, spricht nicht gern darüber. Lieber zeigt er zum x-ten mal die Fotos aus den Zeiten des Dschihad: Abbas und seine Männer vor einem zerstörten russischen Panzer, vor einer abgeschossenen MiG, vor einem brennenden russischen Waffenlager.
Etwa zwei bis drei Millionen Afghanen leben wie er als Flüchtlinge im Nachbarland Pakistan, rund die Hälfte davon in der Grenzstadt Peschawar. Abbas gehört dabei zu den Bessergestellten. Er hat ein Haus in der Abdara Road für sich, seine Familie und einen Hausangestellten, den geistig behinderten Adschi, den er aus seiner Heimat mitgebracht hat. Wie die meisten wohlhabenden Paschtunen hat Abbas zwei Frauen, von denen jedoch nur eine in seinem Haus in Peschawar lebt.
Abbas fährt einen Suzuki-Pickup, besitzt einen Fernseher und mehrere Waffen, von denen er ab und zu eine verkauft. Geldprobleme scheint er keine zu kennen. Auf die Frage, woher sein Geld kommt, denkt er kurz nach. Dann deutet er nach oben und sagt: „Choda“ – von Gott.
Es geht ihm gut. Nicht so gut wie jenen neureichen Afghanen in dem erst kürzlich erschlossenen Viertel Hyatabad im Westen der Stadt. Aber doch hundertmal besser, als den Hunderttausenden armen Schluckern, die in den Flüchtlingslagern Chorasan und Nazir Bagh im Süden und Norden Peschawars ihr Dasein fristen.
Viele Gründe sind für ihr Kommen und Gehen verantwortlich, wie ein Sprecher der UN-Flüchtlingskommission UNHCR in Peschawar erklärt. An erster Stelle steht dabei natürlich der Bürgerkrieg. Doch auch Fälle von Badal, Blutrache innerhalb oder zwischen den paschtunischen Stämmen, oder selbst das Wetter sind Gründe für das Abwandern der Menschen aus ihren angestammten Gebieten. So ziehen zahlreiche Familien hin und her, entweder auf der Flucht vor der Kälte des afghanischen Winters oder umgekehrt vor der Hitze des Sommers in Peschawar.
Turan Abbas selbst floh vor eineinhalb Jahren beim Heranrücken der radikal-islamistischen Taliban, die nun in die afghanische Hauptstadt Kabul eingerückt sind. Seitdem plagt ihn das Heimweh. Und ein schwerer Gewissenskonflikt. Um wieder nach Hause zu dürfen, erklärt er, müßte er sich schon den Taliban-Milizen anschließen. Früher hatte er in der Truppe des (ebenfalls islamistischen) Paschtunen-Führers Gulbuddin Hekmatjar gekämpft. Den mag er zwar auch nicht. „Doch Hekmatjar war wenigstens ein Mudschaheddin“, donnert Abbas und schnaubt verächtlich beim Gedanken an die „Mullahs“. Auch in den Reihen der Taliban finden sich zahlreiche Dschihad-Veteranen, doch deren frömmelndes, hochnäsiges Getue geht dem alten Kämpfer auf die Nerven, wie er deutlich zu verstehen gibt.
Im Flüchtlingslager Chorasan am südlichen Stadtrand leben nach inoffiziellen Schätzungen etwa 100.000 Menschen. So genau weiß das niemand. Dafür sind die Lebensverhältnisse der Bewohner auf den ersten Blick zu erkennen: Offene Kloaken winden sich zwischen den armseligen Läden des riesigen Lagerbazars, wo staubbedeckte Waren feilgeboten werden. Hier gibt es keine Schule, kein Krankenhaus. In den Gassen und der Hauptstraße des Lagers sieht man viele zentralasiatische Gesichter – ein Zeichen dafür, daß sich hier vor allem Tadschiken, Usbeken und Turkmenen aus Afghanistan zusammengefunden haben, während in Nazir Bagh, im Norden der Stadt, vor allem Paschtunen leben. Die Blicke sind mißtrauisch, die Stimmung ist gereizt.
„Manche sind vor den Kommunisten geflohen, manche vor den Mudschaheddin, manche vor ihren Nachbarn“, sagt Dr. Amin. Er ist der Vorsitzende einer Art Lagerrat, der mit den pakistanischen Behörden und den internationalen Hilfsorganisationen zusammenarbeiten soll. Dem Rat gehören in einer Art typisch afghanischer Verhältnisse die Mullahs und älteren Respektspersonen des Lagers an. Dr. Amin hält eine kleine Klinik am Laufen, die zwei Tage in der Woche geöffnet ist – andere Möglichkeiten der medizinischen Versorgung gibt es im Chorasan-Camp nicht. Die Kontakte mit dem pakistanischen Flüchtlingskommissar seien sehr sporadisch und meist nicht sehr fruchtbar, bedauert Dr. Amin. Dieser empfehle meist nur, die Flüchtlinge nach Afghanistan zurückzuschicken. „Was soll aus denen nur werden?“ fragt Amin, und deutet auf eine Gruppe Kinder und Jugendlicher, die auf einem verwahrlosten Friedhof herumhängen.
Nach Afghanistan kehren nach Aussage von UNHCR-Vertretern vor allem viele Paschtunen zurück – in das Gebiet, das die überwiegend paschtunischen Taliban-Milizen in den letzten zwei Jahren erobert haben. Vor deren Hauptquartier in Peschawar herrscht reges Treiben. Bittsteller und Interessenten drängen sich vor dem Tor der großen, gutbewachten Villa. Wer schon dazugehört, trägt Bart, Turban und Kalaschnikow. Drinnen warten zwei junge Taliban auf den bekannten Mullah Achun Zadar. Beide sind 25 Jahre alt und genießen derzeit eine Art Sanatoriumsaufenthalt in der relativen „Ruhe“ Peschawars. Beide haben „Schmerzen im Kopf und an den Nerven“, wie sie sagen. Wie soll die Zukunft aussehen? „Wir möchten weiter für den Frieden und den Islam kämpfen“, sagt einer der beiden und zieht den Kopf ein. Ein älterer Talib ist soeben eingetreten und blickt streng in die Runde, um den jungen Männern gleich darauf beruhigend zuzulächeln. Mullah Achun Zadar ist 36 und trägt eine große Brandnarbe auf der rechten Gesichtshälfte.
Obgleich er sich seinen jüngeren Kameraden gegenüber freundlich verhält, macht er keinen Hehl daraus, daß ihm die Gegenwart von Ausländern unangenehm ist. Die Antworten, die meist nicht zu den Fragen passen, kommen kurz und wie aus der Pistole geschossen. Auf die Frage, ob die Taliban vom pakistanischen Geheimdienst unterstützt würden, sagt Mullah Achun Zadar: „Wir unterhalten freundschaftliche Beziehungen zu Pakistan, erhalten aber keine Unterstützung. Wir sind eine rein afghanische Gruppe von Religionsschülern.“ Er selbst sei in einer religiösen Schule in der pakistanischen Provinz Belutschistan ausgebildet worden.
Unten in der Eingangshalle spricht der paschtunische Übersetzer Nafiis einen breitgebauten älteren Talib an. Dieser spricht jedoch, ungewöhnlich genug, kein Paschtu, und so stellt Nafiis die gleiche Frage auf Dari, dem persischen Dialekt der Tadschiken. Doch der dunkelhäutige Mann spricht auch kein Dari. Er spricht ausschließlich die pakistanische Staatssprache Urdu, mit dem starken Akzent eines Pandschabi, wie Nafiis mit hochgezogenen Augenbrauen feststellt. Er eskortiere einen Leichnam nach Sargoda im Pandschab, erklärt der Pandschabi im Gewand eines Talib freimütig. Da taucht Mullah Achun Zadar auf und reißt die beiden auseinander. Er ist mehr als ungehalten über die Unterhaltung. Seine Verabschiedung ist ein nahezu unverhohlener Rausschmiß.
Turan Abbas hat sich dazu durchgerungen, ebenfalls mit den Taliban Kontakt aufzunehmen. Das Heimweh hat gesiegt. Ins Taliban-Hauptquartier zu den anderen Wartenden geht er jedoch nicht. Das verbietet ihm sein Stolz. Der Zufall will es, daß sich gerade der Bruder einer Nachbarin in Peschawar aufhält. Seine Name ist Schalaj Mangal, und er ist der Anführer eines Unterstammes der Mangal aus Paktia. Schalaj Mangal ist nicht gerade ein Taliban, wie er im Buche steht, doch er gibt sich große Mühe. In seinem bunten, mit zahlreichen Glas- und Metallplättchen verzierten Samtrock sind zwei alte Orden aus der Zeit des afghanischen Ministerpräsidenten Daud Khan in den siebziger Jahren eingenäht. Warum er ein Talib geworden ist, kann er leicht erklären: „Die Taliban sind vor 15 Monaten in Paktia einmarschiert“, lautet die Antwort kurz und bündig. Er wolle, daß Afghanistan ein „gutes Land“ wird, sagt Schalaj Mangal. Nicht eines, das in die Hände von Frauen und Russen fällt – sogar der bodenständige Abbas grinst uns an und zeigt Schalaj Mangal hinter seinem Rücken einen Vogel.
Als die Zeit fürs Gebet gekommen ist, ist es auch Zeit für „Mullah“ Schalaj, seine neue, islamistische Identität unter Beweis zu stellen. Als einziger unter Abbas' Gästen steht er auf und breitet ein Gebetstuch auf dem Boden aus. Die anderen beobachten ihn gespannt. Keiner spricht ein Wort. Als er sich gerade erhebt, fängt einer von Abbas' Kanarienvögeln an, ohrenbetäubend zu piepsen. Schalaj Mangal zuckt zusammen, und die Männer grinsen. Als er das nächste Mal wieder auf die Knie fällt, packt ihn ein Hustenanfall, der ihn nicht mehr losläßt. Die Würde des Augenblicks ist dahin. Nicht lange darauf packt der alte Stammeskrieger seinen Gebetsschal zusammen und verabschiedet sich. Noch lange lachen Abbas und seine Gäste an diesem Abend über den seltsamen Mann, den das Kriegsglück der neuen Herren und seine Stammesehre dazu zwingen, nun in das Gewand eines Mullahs zu schlüpfen.
Später, als auch die anderen Gäste gegangen sind, zieht Abbas tief an seiner Zigarette und denkt nach. Dann sagt er: „Die Taliban sind Idioten. Eingebildete Idioten.“ Wem will er dann folgen? Wer ist ehrlich und gut? – „Toran Abbas ist gut“, sagt er und klopft sich auf die Brust.
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