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Der ungeliebte Röntgenpaß

Nur wenige PatientInnen lassen sich beim Röntgen ein Nachweisheft ausstellen  ■ Von Klaus-Peter Görlitzer

Die Frage müßte in Deutschlands Krankenhäusern, Arztpraxen und radiologischen Instituten jeden Tag über hunderttausendmal gestellt werden: „Lieber Patient, liebe Patientin, haben Sie einen Röntgenpaß dabei?“ So jedenfalls verlangt es Paragraph 28 der Röntgenverordnung.

Die Bundesregierung hatte den Röntgenpaß 1988 eingeführt – als freiwillige Gedächtnisstütze in der Hand der PatientInnen. Auf dem Papier vermerkt der Arzt, welche Körperregion er wann geröntgt hat, und bestätigt dies mit Stempel und Unterschrift. Von dieser gebührenfreien Leistung versprachen sich PolitikerInnen die Vermeidung unnötiger und teurer Untersuchungen. Manche MedizinerInnen und PatientenschützerInnen hofften, der Ausweis werde dazu ermutigen, Röntgenaufnahmen und ihren Anlaß gezielter zu hinterfragen.

Daß der Alltag meist anders aussieht, hat der Arzt Thomas Hilbert vom Bremer Gesundheitsamt nun mit einer Studie herausgefunden. In der Hansestadt befragte Hilbert 638 Frauen und Männer nach ihren Röntgenpaßerfahrungen, dazu alle in Bremen ansässigen Krankenhäuser, Radiologen und Geschäftsstellen gesetzlicher Krankenkassen. Das, wie Hilbert findet, „ernüchternde Endresultat“: Nur jeder achte Patient besitzt ein Nachweisheft. Unter denjenigen, die binnen fünf Jahren mindestens sechsmal geröntgt worden waren, ist es immerhin jeder fünfte. Aber ein Drittel der Heftchen war unvollständig ausgefüllt.

Viele Menschen haben noch gar nicht mitbekommen, daß sie die kleine Erinnerungshilfe beanspruchen können. Das liegt vor allem an den vielen MedizinerInnen, die es mit ihrer Fragepflicht gemäß Röntgenverordnung nicht so genau nehmen. Keine der Bremer Kliniken antwortete, sie weise PatientInnen von sich aus auf den Paß hin. Nur zwei von zwölf Röntgeninstituten erklärten, sie würden die Heftchen stets ausgeben. Auch die Krankenkassen halten sich mit Aufklärung zurück: Gerade 3 von 27 Bremer Geschäftsstellen gaben an, sie würden ihren Versicherten den Paß unaufgefordert anbieten.

Anlaß, dies zu ändern, sieht der Verband der Angestelltenkrankenkassen (VDAK) nicht. Pressesprecherin Michaela Gottfried bestätigt, daß Versicherte den Paß in der Regel nur auf Nachfrage erhielten, dies aber mangels Wissen der Betroffenen selten geschehe. Gottfried reicht den Schwarzen Peter weiter und appelliert an die MedizinerInnen, ihrer Fragepflicht nachzukommen, zudem müßten PolitikerInnen und Ministerien die BürgerInnen besser über den Paß aufklären.

Tatsächlich hatte die Bundesregierung bereits im Juni 1993 im Bonner Parlament versprochen, sie werde sich an Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung und Bundesländer wenden, um mit vereinten Kräften einen entsprechenden Appell an die Ärzteschaft zu richten. Doch Frank Ulrich Montgomery, BÄK- Vorstandsmitglied und Radiologe, versichert: „Wir haben bis heute keinen entsprechenden Brief von der Bundesregierung bekommen.“

Warum der Ausweis nicht besonders ernst genommen wird, erklärt sich Hilbert vor allem so: „Der Röntgenpaß ist eine halbherzige Maßnahme.“ Da auch ein lückenlos geführtes Heft nur sehr vage Auskunft über die tatsächliche Strahlenbelastung gebe, seien PatientInnen und ÄrztInnen nicht motiviert, das Papier mitzubringen und auszufüllen.

Der Mediziner aus Bremen schlägt vor, mehr Information zu wagen: Künftig sollten auch die Zahl der Aufnahmen, ihr Format sowie Angaben zur verwendeten Strahlendosis notiert werden. Diese „aussagekräftigere Dokumentation“, die jeder Arzt ohnehin schon für seine Unterlagen erstellen und zu Prüfzwecken mindestens zehn Jahre aufbewahren muß, will Hilbert nun auch in den PatientInnenpaß geschrieben wissen – und zwar rechtsverbindlich.

Solche einfachen Ideen findet Montgomery „nicht besonders hilfreich“, der Vorstand der Bundesärztekammer habe größere Pläne. Montgomery plädiert dafür, medizinische Informationen wie Diagnosen, Befunde, Strahlendosen, Röntgenbilder „langfristig“ elektronisch zu speichern – entweder auf Patienten-Chipkarten oder in einem „gesicherten Datennetz“ für die Ärzteschaft. In zehn bis fünfzehn Jahren, hofft er, werde es soweit sein; noch aber gebe es „immense Probleme“, technische und vor allem datenschutzrechtliche. „Entscheidende Fragen“, so Montgomery, seien noch zu lösen, etwa diese: Wie verhindert man den unberechtigten Zugang zu elektronisch gespeicherten PatientInnendaten?

Das ist Zukunftsmusik. Die Perspektiven des Röntgenpasses stehen im November zur Diskussion, wenn in München der Bund-Länder-Ausschuß „Röntgenverordnung“ tagt. Die Gesandten sollen aufzeigen, wie ein besserer Paß aussehen könnte. Findet ihre Empfehlung Gefallen bei den Leitenden MedizinalbeamtInnen der Bundesländer, könnte das Thema im kommenden Jahr auch die GesundheitspolitikerInnen erreichen. „Gelingt die Reform nicht“, gibt Hilbert ihnen mit auf den Beratungsweg, „sollte der Röntgenpaß konsequenterweise abgeschafft werden.“

Allerdings garantieren weder ein detaillierter Röntgenpaß noch Montgomerys EDV-Visionen, daß unnötige Strahlenbelastung vermieden wird. Entscheidend sei das Verhalten der MedizinerInnen, meint Hans-Stephan Stender, Vorsitzender des Arbeitskreises Radiologie im Ausschuß „Qualitätssteigerung ärztlicher Berufsausübung“ der Bundesärztekammer. „20 bis 50 Prozent der Röntgenuntersuchungen“, so die Erkenntnis des emeritierten Professors der Medizinischen Hochschule Hannover, „werden je nach Körpergebiet ohne hinreichende Rechtfertigung veranlaßt.“

Die Ursachen „diagnostisch nicht ergiebiger Röntgenaufnahmen“ sind laut Stender vielfältig: Mal sei der anordnende oder anfordernde Arzt fachlich unsicher, mal werde die Krankengeschichte mangelhaft erhoben, mal die Röntgenuntersuchung technisch schlecht ausgeführt. Momentan nicht verfügbare, aber vorhandene Bilder veranlaßten MedizinerInnen, Aufnahmen zu wiederholen. Gelegentlich sind es die Versicherten selbst, die auf die Aufnahme drängen. Und eine wichtige Rolle spielen offenbar auch Verdienstmöglichkeiten sowie Auslastung der teuren Geräte: „Ärzte, die in ihrer Praxis oder Abteilung selbständig über eine Röntgeneinrichtung verfügen“, schreibt Stender, „führen als Selbstüberweiser allgemein zwei- bis fünfmal so viele Röntgenuntersuchungen durch wie Ärzte, die zur Röntgenuntersuchung überweisen müssen.“

Dieser auffällige Befund müsse genauer unter die Lupe genommen werden. Stichprobenprüfungen, meint der erfahrene Radiologe, könnten unnötige Strahlenexpositionen vermeiden und Kosten senken helfen. Würde nur ein Drittel der jährlich in deutschen Krankenhäusern und Arztpraxen angefertigten 70 Millionen Röntgenaufnahmen vermieden, brächte das „eine deutliche Reduktion der Kollektivdosis und eine Kostenersparnis im Jahr von rund einer Milliarde Mark“.

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