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„Tabus faszinieren immer“

Die Kinder- und Jugendpsychoanalytikerin Gabriele Teckentrup hält die Emotionen, die beim Thema Kindesmißbrauch hochkochen, für Verschiebungen. Mit ihr sprach  ■ Ute Scheub

taz: Seit dem Skandal um den belgischen Kindermörder Dutroux scheint es europaweit eine kollektive Obsession zu geben. Eltern sehen überall lauernde Sexualtäter stehen; Agenturen berichten täglich von verschwundenen Kindern, die dann aber zum Glück meistens wieder auftauchen; Politiker sondern eine Erklärung nach der anderen ab. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Gabriele Teckentrup: Heftige emotionale Reaktionen erfolgen immer dann, wenn nach jahrelangem Weggucken und Wegdrängen plötzlich ein Tabu aufbricht. In Belgien ist das Ausmaß des Skandals ja nun wirklich nicht mehr zu übersehen. Die Empörung darüber richtete sich zunächst gegen den Täter, aber jetzt geht es längst um die Frage, welche geheimgehaltene Verstrickung, welche Korruption tut sich da auf. Es hat den Anschein, als sei eine ganze Nation aufgeschreckt und in ihren Grundfesten erschüttert.

Kindesmißbrauch ist ja kein neues Delikt. Kinder werden sexuell mißbraucht, seit es Kinder gibt. Mißbrauch war ähnlich wie Inzest bislang eines der bestgehütetsten Geheimnisse. Ein Tabu hat immer zwei Aspekte: Der eine ist, daß man nicht darüber redet. Der zweite ist, daß das Tabu zugleich eine starke Faszination auslöst. Offensichtlich war es bislang so, daß das Verbot, die Gefahr und die Angst, die damit verbunden waren, genauer hinzusehen, stärker waren als die Neugierde.

Und jetzt ist es umgekehrt?

Jetzt ist etwas durchbrochen. Und das steht für mich in einem eindeutigen Zusammenhang mit dem politischen Rollback. Wir erleben zur Zeit gesellschaftliche Veränderungen mit einer umfassenden sozialen Demontage. Viele Menschen sind zutiefst verunsichert. Es gibt kaum noch Protestbewegungen wie in den 70er Jahren. Statt dessen richtet sich die Empörung in diesem Ausmaß auf den Kindesmißbrauch und erfüllt damit zugleich einen allgemeinen Panikbedarf. Das ist Ausdruck einer massiven Verschiebung.

Die Verschiebung interessiert mich. Aufklärungsfibeln werden auf den Index gesetzt; Bürgerinitiativen, in den 70er Jahren das Sinnbild für bürgerlichen Ungehorsam, fordern die „sofortige Kastration“ von Kindermißbrauchern; in der CDU Brandenburg wird über die Todesstrafe für Sexualtäter debattiert. Gibt es ein neues Bedürfnis nach Tabus? Tobt sich da ein kollektives Strafbedürfnis gegenüber der sexuellen Libertinage der 70er Jahre aus?

Verbotenes Sexualverhalten ruft immer Strafreaktionen hervor. Aktuell aber scheint es um die enorme Angst zu gehen, etwas, was gerade aufbricht, nicht mehr unter Kontrolle bekommen zu können, von dem Ausmaß des sexuellen Kindesmißbrauchs überrollt zu werden. Dahinter steht die Angst vor Machtverlust, davor, die Kontrolle über die Triebe zu verlieren.

Vor welchem Machtverlust?

Menschliche Beziehungen werden von gegenseitigem Begehren bestimmt. Dabei stellt sich die Frage: Wer erfüllt wessen Begehren? Männer haben gelernt: Frauen haben sich ihnen unterzuordnen. Macht über Menschen zu haben, ist für sie eng verbunden mit einem eigenen Gefühl für Männlichkeit. Wenn ich in meiner therapeutischen Praxis mit Tätervätern zu tun bekommen habe – oftmals sind Sexualtäter selber Opfer von Mißbrauch durch den eigenen Vater, aber auch die Mutter –, ging es diesen Vätern häufig auch darum, sich über die Tochter an der eigenen Frau, an der Mutter zu rächen.

Gibt es einen hervorstechenden Typus von Sexualtätern? Grob gesprochen gehen die Feministinnen davon aus, daß sexueller Mißbrauch ähnlich wie Vergewaltigung weniger ein Trieb- und vielmehr ein Machtdelikt sei: Männer toben ihre Machtbedürfnisse auf diesem Weg aus. Die FamilientherapeutInnen hingegen vertreten den Ansatz, die Täter seien selbst oftmals Mißbrauchsopfer und ihre Tat nicht Ausdruck von Macht, sondern von Ohnmacht.

Ich selber habe wenig direkte Erfahrung mit Tätern. Ich weiß aber aus meiner therapeutischen Praxis, daß es oftmals zu einer Art von Koalition zwischen Vater und mißbrauchter Tochter kommen kann, wenn der Vater ein sehr geringes Selbstwertgefühl hat und sich von der Frau nicht hinreichend beachtet fühlt. Die Tochter kann die Einsamkeit und Traurigkeit des Vaters nicht ertragen, sie nähert sich dem Vater, will ihn trösten. Der Vater nutzt dies als sexuelles Angebot, was das Kind dann nicht mehr versteht, aber erduldet, um den Vater zu trösten. Der Mann versucht sein geringes Selbstwertgefühl also auf diese Weise zu kompensieren. Es ist sicher richtig, daß Täter oft selber mißbraucht worden sind – das muß nicht immer nur sexueller Mißbrauch, das kann auch massive Gewalt oder narzißtischer Mißbrauch gewesen sein –, so daß diese Männer enorme Schwierigkeiten haben, eine stabile Identität als Mann zu entwickeln. Sie versuchen sich selbst zu stabilisieren, indem sie über fremde Körper verfügen.

Die jetzigen „Kopf-ab“- oder „Schwanz-ab“-Parolen sind für mich ein deutliches Indiz für die Abspaltung eigener Wünsche. Wenn man annimmt, daß jedes vierte oder zwanzigste Kind mißbraucht worden ist – hier gibt es ja unterschiedliche Schätzungen –, dann ergibt sich schon statistisch, daß sich viele Täter in den Chor der Empörten mischen.

Dieses Thema hat in ganz besonderer Weise mit Abspaltungen zu tun, deswegen ist die Diskussion darüber so schwierig. Entweder man steht auf der Seite der Opfer oder der Täter, entweder man verurteilt alles schärfstens oder man riskiert schärfste Anwürfe. Abspaltungen haben ja immer damit zu tun, daß man eigene Begierden, das, was man sich selbst verbietet, wie man selbst nicht sein will oder darf, auf andere projiziert und dort bekämpft – manchmal bis zur physischen Vernichtung. Ich möchte nicht wissen, wie viele dieser Saubermänner sich klammheimlich an Kinderpornos oder anderen Pornos berauschen – sonst wäre dieser Markt ja nicht so groß. Mich empört ganz besonders, daß der Kindersextourismus nach Thailand über Jahrzehnte hinweg beworben und gefördert wurde, ohne daß sich jemand darüber aufregte. Erst bei den eigenen Kindern fängt die Empörung an.

Diese ganze Debatte bringt die hedonistische Fraktion der Feministinnen, zu der ich mich klammheimlich zähle, heftig in die Bredouille. Wenn wir uns empören, fördern wir die neue Prüderie und die Strafverschärfung. Wenn wir abwiegeln, fördern wir die Verharmlosung. Was tun?

Man muß alles tun, um eine differenzierte Diskussion zu ermöglichen, um sich eben nicht in dieses Entweder-Oder drängen zu lassen. Das Verbrechen des sexuellen Mißbrauchs steht ja nicht nur für sich allein, es steht auch für das Gebrauchen von Menschen überhaupt. Kinderarbeit, Sklavenarbeit, Leibeigenschaft, Folter, Billiglohn – überall werden menschliche Körper für das eigene Macht- und Gewinnstreben mißbraucht. Ich persönlich kann nicht sagen, was psychisch und physisch schlimmer ist: jahrelange Ausbeutung von kindlicher Arbeitskraft oder sexueller Mißbrauch. Man kann nur versuchen, diese Spaltungsmechanismen und die Kräfte, die dabei frei werden, zu analysieren, vor allem den Haß und das voyeuristische Begehren – die Medien schüren es, weil es ihnen Gewinn bringt. Die Lust, die beim Lesen geweckt wird, wird schnell in moralische Entrüstung umgemünzt, weil ich sonst über mich erschrecken würde.

Das alles zusammen gesehen macht uns schon fast mundtot, zumal wenn wir denen nicht das Wort reden wollen, die die Aufklärungsfibeln verbieten und immer mehr Staat zwischen die Körper schieben wollen.

Zunehmende Repression ändert auch nichts. Aufklärungsstopp und Strafverschärfung führt bloß dazu, daß auch das Tabu und andere Heimlichkeiten wieder schärfer werden.

Aber welche Debatte hilft denn dann überhaupt? Wildwasser und andere Projekte haben ja immer versucht, den Mißbrauch öffentlich zu thematisieren, weil nur so die breite Öffentlichkeit zu sensibilisieren sei.

Ich glaube, daß das der richtige Weg ist. Das Verschweigen hat fürchterliche Folgen für die Kinder: Sie dürfen nicht über die Tat sprechen. Man muß es ihnen also erleichtern, sich vertrauensvoll an andere zu wenden, damit sie mit dem, was ihnen passiert ist, nicht jahrelang allein sind. Denn das ist das eigentlich Traumatisierende.

Man kann aber auch den Umkehrschluß ziehen: Die zwangsläufig moralisch unterlegte öffentliche Debatte schärft das Tabu und erhöht damit, ohne es zu wollen, die Lust der Tabubrecher. Es gibt ja genug Menschen, denen nur die verbotenen Formen der Sexualität genug Lust bieten.

Sicher. Deswegen weiß ich auch keinen Königsweg. Natürlich kann die Diskussion, wie sie derzeit in den Medien geführt wird, zusätzlich Begehren wecken und Schleusen öffnen. Aber ich glaube trotzdem, daß wir darüber öffentlich debattieren müssen – so verantwortungsvoll und so differenziert wie möglich. Die Alternative wäre das Verschweigen. Man muß auch den Menschen, die nur diese verbotenen Formen von Sexualität leben können, Angebote machen – im Sinne von Verständnis, nicht von Akzeptanz. Das, was sie tun, ist ein Verbrechen, da gibt es kein Drumrumreden. Aber wir müssen verstehen lernen: Wie kommt es dazu, was steht hinter ihren Handlungen?

Eine Studie des Bundeskriminalamtes von 1986 spricht davon, daß nur fünf Prozent aller Kindesmißbraucher verurteilt werden. Bisher war diese Form von Verbrechen nahezu risikolos.

Eine Straferhöhung würde daran nichts ändern. Allerdings sind Sexualstraftaten von Männern bislang eher verharmlost worden. Gewaltakte gegen Frauen und Kinder gelten in den Strafgesetzen und bei Staatsanwaltschaft und Polizei noch weitgehend als Kavaliersdelikt. Insofern ist es ein Fortschritt, daß Kindesmißbrauch klar und deutlich als Verbrechen gesehen wird.

Mit der Folge, daß mit der neuen Strafrechtsreform die Höchststrafe für Kindesmißbrauch von 10 auf 15 Jahre angehoben werden soll...

Diese Debatte ist wirklich kompliziert. Wenn man nicht hart genug ist, stellt man sich, ohne es zu wollen, auf die Seite der Täter. Wenn man zu hart ist, stellt man sich auf die Seite der Sexualmoralisten, die mühsam gewonnene Freiheiten wieder zurückdrehen wollen. Es wird in einer demokratischen Gesellschaft immer darum gehen, etwas aushalten zu müssen, ohne es zugleich hinzunehmen.

Es fehlt ein differenziert erklingender Chor der Feministinnen.

Wahrscheinlich. Denn auch innerhalb der Frauenzusammenhänge kippt die Diskussion derzeit um, die Frauen wollen vom Thema sexueller Mißbrauch nichts mehr hören. In dieser ganzen gesellschaftlichen Debatte spiegeln sich alle Strukturen von Herrschaft und Unterwerfung, von Macht und Ohnmacht. Daher auch die Verzerrungen, Abspaltungen, Ableitungen.

Der Schweizer Professor Alberto Godenzi hat folgende These entwickelt: Gesellschaften, die den Tod besonders rigide verdrängen und einem Kult der ewigen Jugendlichkeit frönen, neigen besonders zu Kindesmißbrauch. Erwachsene benutzen Kinder, die Sinnbilder des Lebens, als Jungbrunnen, sie versuchen ihnen ihre Lebendigkeit abzuzapfen, um sich selbst ein Stückchen Unsterblichkeit zu ergattern.

Ein interessanter Gedanke. Ich glaube aber, daß es ganz unterschiedliche Motive gibt, warum das Begehren nun gerade Kinder trifft. Das ist bei Päderasten noch mal anders als bei Gewalttätern oder bei sogenannten Perversen. Machtgelüste, Rache, Neid auf die Unschuld oder die Jugendlichkeit des Kindes, das Verfügenkönnen über einen Körper, das alles können Motive sein.

Welche Grenze ziehen Sie persönlich zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen bei der kindlichen Sexualität?

Ich erinnere mich deutlich an die Diskussionen in der Phase der ersten Kinderläden: Sollen Kinder dabei sein, wenn ihre Eltern miteinander schlafen? Das war damals eine ähnlich aufgeregte Debatte. Ich hatte damals das unsichere Gefühl, ich möchte das nicht. Heute weiß ich, daß es falsch ist! Kinder sind allein unter dem sexuellen Aspekt vollkommen überfordert. Sie haben eine andere, eine kindliche Sexualität und noch keine genital erwachsene. Für Kinder ist es erschreckend und überwältigend, ihre Eltern beim Sex zu erleben. Kinder haben ihre eigene Form von Lustbefriedigung. Sie versuchen ihren Körper auszuprobieren, sich Lust zu verschaffen, Vater oder Mutter zu „verführen“, um neugierig festzustellen, welche Reaktionen das auslöst. Aber das hat nichts mit erwachsener Sexualität zu tun. Und deswegen hat es immer schreckliche seelische Folgen für das Kind, wenn ein Erwachsener in seiner Form von Sexualität über einen Kinderkörper verfügt.

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