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Ist jeder hier lebende Russe ein Mafioso?

■ Hält die Polizei alle russischsprachigen Menschen für Verbrecher? fragt Boris Feldmann, Chefredakteur der Zeitung "Russkij Berlin", nach der Razzia eines schwerbewaffneten Einsatzkommandos der Pol

Es war wirklich ein Wunder, daß es während der Polizeirazzia in einem überfüllten Restaurant mit Namen „Astoria“ am späten Donnerstagabend des 10. Oktober keine Opfer gab. Diese Aktion kann man als Sturmangriff bezeichnen. Über hundert mit Maschinenpistolen bewaffnete maskierte Männer in kugelsicheren Westen und mit Schutzhelmen stürmten ohne jedes Warnsignal ins Lokal.

Man kann sich vorstellen, was hätte geschehen können, wenn unter den Gästen, darunter Frauen und Kinder, Panik ausgebrochen wäre, wenn die auf Niederschlagung eines bewaffneten Widerstands psychologisch vorbereiteten Männer des Spezialeinsatzkommandos jede Bewegung der Gäste als Gefahr für ihr Leben empfunden hätten.

Ich weiß nicht, ob die Personen, die diese Aktion geplant und befohlen haben, auf ein Wunder hofften. Oder waren sie wirklich bereit, alle Opfer bewußt in Kauf zu nehmen für die Erreichung eines einfachen Ziels: der „Russen-Mafia“ zu zeigen, daß sie unter Beschuß der Polizei steht. Dieses Ziel nannte Uwe Schmidt, Leiter der Abteilung „Organisierte Kriminalität“, in einem Interview mit der B.Z.: „Wo viele Russen sind, ist auch vielleicht Mafia dabei. Wir vermuteten gesuchte Personen unter den Gästen. Und weil etliche davon ihre Bodyguards dabeihatten, kam das SEK zum Einsatz.“

So wurden einhundertzehn Gäste des Lokals, die Bedienung und die Artisten prompt als „Mafiosi“ abgestempelt. Zu denen gehörten unter anderem auch Reginchen, das fünfjährige Mädchen, die unter die Füße eines SEK-Mannes geraten ist, eine russische Fürstin, Vertreterin einer der berühmtesten Adelsfamilien, eine ehrenwerte Frau Doktor..., die über fünfundzwanzig Jahre in Berlin lebt und während dieser Zeit Hunderte von Polizeibeamten medizinisch behandelt hat, ein verdienter Schauspieler Rußlands, eine Mitarbeiterin der Jüdischen Gemeinde und viele andere, die durch einen Befehl von oben in den Rang von Verbrechern degradiert wurden.

Stellen wir uns einmal vor, daß die von der Polizei gesuchten Personen wirklich unter den Gästen gewesen wären. Genau dieses Argument wurde von Herrn Schmidt genannt. Gerade deswegen sollte die Operation von einem nahezu vollständig anwesenden Sondereinsatzkommando ausgeführt werden; nach Zeugenaussagen waren über dreihundert Polizeibeamte und SEK-Leute im Einsatz, die das Stürmen des Lokals und die Durchsuchung sicherten. Somit rechneten die Organisatoren dieser Nacht-und-Nebel-Aktion offensichtlich mit einem bewaffneten Widerstand.

Und was wäre dann in einem ziemlich kleinen Restaurantraum geschehen, wenn diese Befürchtungen Wirklichkeit geworden wären? Ein Kampf, der in dieser großen Menge passiert, wo es praktisch unmöglich ist, die Widerstand Leistenden von den friedlichen Gästen zu trennen – wie viele zufällige Opfer wollten die Planer dieses Horrorszenarios in Kauf nehmen?

In diesem Zusammenhang möchte man wirklich fragen: Hätte die Führung der Polizei solche Aktion gebilligt, wenn sie nicht der Meinung wäre, daß alle sich im Lokal befindenden Personen mutmaßliche Verbrecher seien?

Sogar bei der Geiselnahme gehen die Gesetzeshüter Kompromisse ein, versorgen die Geiselnehmer auf deren Anforderung mit Geld, Rauschgift und Waffen, stellen Transportmittel zur Verfügung. Sie tun alles nur, um das Leben der unschuldigen Menschen zu schützen.

Das Stürmen eines Flugzeugs oder eines Gebäudes ist das allerletzte Mittel, das in solchen Situationen eingesetzt wird, denn jeder weiß, daß die zufälligen Opfer nicht zu vermeiden sind. Warum haben die obengenannten Argumente diesmal nicht gewirkt? Warum wurden wegen der Festnahme von einem, zehn oder dreißig mutmaßlichen Verbrechern das Leben anderer unschuldiger Menschen aufs Spiel gesetzt?

Auf all diese Fragen gibt es eine Antwort, die wir schon oft gehört haben: Es geht um den Kampf mit der „Russen-Mafia“.

Es wäre dumm, darüber zu streiten, daß unter uns, hier „Russen“ genannt – und unter diese Bezeichnung fallen mit Hilfe der Polizei und der Massenmedien alle ehemaligen Sowjetbürger wie Wolgadeutsche, Juden, wirkliche Russen, Georgier, Zigeuner, Armenier, Usbeken, Ukrainer, deutsche Ehefrauen und -männer, die mit russischen Muttersprachlern verheiratet sind, die Gäste aus Israel und den USA, mit einem Wort: alle, die Russisch, die Sprache von Puschkin und Tolstoi, als Muttersprache haben oder zweisprachig aufgewachsen sind –, daß es unter diesen anderthalb Millionen Menschen keine Verbrecher gibt. Die gibt es zweifelsohne.

Aber die Kriminalität ist doch kein nationales Merkmal. Und ich wage zu behaupten, daß es unter anderthalb Millionen echten Deutschen auch genügend Kriminelle gibt.

Stellen Verbrecher deutscher Nationalität eine geringere Gefahr für die Gesellschaft und das Land dar, in dem für alle Bürger gleiche Gesetze gelten? Was ist mit den Kriminellen, die Kinder mißhandeln und ermorden, die Kinderhandel betreiben? Was ist mit den Überfällen durch rechtsradikale Jugendliche? Sollen wir nun alle deutschen Jugendlichen für Faschisten oder alle deutschen Männer für Pädophile halten? Hätte dann ein Beamter gesagt, daß dort, wo viele Deutsche versammelt sind, potentiell mit Verbrechern zu rechnen ist, die sich der Ermordung von Kindern schuldig gemacht haben?

Fast jeder russischsprachige und in Deutschland lebende Bürger fühlt, daß er unfreiwillig in den Genuß einer „besonderen Behandlung“ gekommen ist. So wie jedes mehr oder weniger große Verbrechen von einigen Zeitungen sofort der „Russen-Mafia“ zugeordnet wird.

Ein bekannter russischer Wissenschaftler, Professor W., fügte ein interessantes Detail hinzu: „Ich fliege von Moskau nach Berlin, schon acht Jahre lang“, sagte er, „in der Regel fünf- bis sechsmal im Jahr. Und ich wage zu behaupten, daß man anhand der Reaktionen der Grenzschutzbeamten auf meinen Reisepaß über die Stimmung im Land urteilen kann. Es gab Zeiten, wo ich noch angelächelt wurde und mir ,danke‘ gesagt wurde. Nun sind diese Zeiten vorbei. Es ist okay, daß sie jeden Stempel und jede Unterschrift überprüfen. Aber das Lächeln ist schon längst verschwunden, und höfliche Begrüßungsworte gibt es nicht mehr. Es kommt mir vor, als ob man mir einen Gefallen damit tut, mich die deutsche Grenze passieren zu lassen, und damit versucht man mir noch zu zeigen, daß ich diesen Gefallen zu schätzen habe.“ Man kann sich kaum vorstellen, daß etwas Ähnliches im Jahr 1991 oder 1992 passiert wäre, daß bis an die Zähne bewaffnete Polizeieinheiten ein Flüchtlingsheim in Ahrensfelde gestürmt hätten. Damals waren dort viele russischsprachige Bürger untergebracht, darunter gab es bestimmt welche, die es verpaßt haben, ihr Visum verlängern zu lassen, und sogar solche, die gefälschte Ausweise hatten.

Im Juni 1990, als wir Flüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen, brachten uns Deutsche einen kleinen Elektroherd, ein paar Bratpfannen und einige Lebensmittel ins Lager, damit wir wenigstens etwas im Haushalt hatten... Hätten sie das auch heute getan, wenn sie jedesmal von den Zeitungen über unsere generelle Zugehörigkeit zur Mafia „aufgeklärt“ werden?

Dazwischen liegen nur fünf Jahre. Heute wird mit Leichtigkeit ein Spezialeinsatzkommando zum Stürmen des Restaurants „Astoria“ rausgeschickt, weil, wo viele Russen sind, ist vielleicht auch Mafia. Aber „viele Russen“ treffen sich auch woanders.

Dann muß man uns schon offen sagen: Dort, wo sich Russischsprechende treffen, sei es ein Theater, ein Restaurant, eine Ausstellung, am Flughafen oder in der Synagoge, in einer Kirche, bei einem russischsprachigen Arzt oder in den Redaktionen russischsprachiger Zeitungen, in den Gemeinden, in den Schulen, im Kindergarten, in russischen Firmen oder Geschäften, beim russischen Radio oder Fernsehen, im Reisebüro, bei den Versammlungen der Landsmannschaften der Aussiedler, bei Treffen mit bekannten Schriftstellern und Dichtern Rußlands, auf einem Kinofestival, auf einer Handelsausstellung am russischen Stand, in jedem Haus, wenn viele Gäste erwartet werden, überall dort, wo russische Sprache dominiert, muß man mit Razzien, Durchsuchungen, Kontrollen jeder Art rechnen, denn ein Signal genügt... Und all diese Handlungen werden mit einem Stichwort gerechtfertigt: der Notwendigkeit des Kampfes gegen die „Russen- Mafia“.

Die wirklichen Verbrecher aber läßt das völlig kalt. Sie spazieren unbewaffnet durch Deutschlands Straßen, und mit ihren Papieren ist auch alles in Ordnung. Die echten Kriminellen amüsieren sich doch darüber, wie die „Gesetzeshüter“ mit unserem Publikum umgehen, denn mit solchen Handlungen werden die Menschen von der Zusammenarbeit mit der Polizei richtig abgeschreckt, somit wächst die Mauer des Mißtrauens immer höher. Und inzwischen geht bei der Polizei alles seinen Gang. Man kann ja stolz berichten: Es wurde ein Großeinsatz durchgeführt. Und die breite Bevölkerung sieht sofort, daß die Polizei immer auf der Hut ist, sie schläft nicht, sie kämpft... Ich befürchte, daß die Logik dieser Entwicklung dazu führen kann, daß das SEK eines Tages die Synagoge stürmt auf der Suche nach Rauschgift und Waffen. Denn dort versammeln sich von Jahr zu Jahr immer mehr russischsprachige Menschen.

In jener Nacht versank im Restaurant „Astoria“ die Spirale der Geschichte für einige Stunden in die Vergangenheit. Die Durchsuchung dauerte über vier Stunden. Und die Menschen, die sich in dieser Zeit nicht bewegen, nicht sprechen durften und ihre Hände auf den Tischen halten sollten, all diese Menschen schienen am Ende total erschöpft zu sein. Plötzlich fing jemand an zu singen. Er sang aus Protest, was in dieser Situation leicht zu verstehen war, er sang „Chava Nagila“, ein jüdisches Volkslied. Und die bis jetzt schweigenden und völlig niedergeschmetterten Gäste, international in ihrer Herkunft, fingen auf einmal die Melodie auf. In Berlin im Oktober 1996 sangen die Menschen mit nicht aufeinander abgestimmten zitternden Stimmen, im Visier der mit Maschinenpistolen bewaffneten Polizisten, ein langsames jüdisches Lied, begleitet vom Gebell trainierter Polizeihunde. Boris Feldmann

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