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Noch nicht soweit

Ob eine Wahrheitskommission in einer Gesellschaft Sinn macht, die sich im Umbruch befindet, hängt vom Gleichgewicht der politischen Kräfte ab. Das ist in Irland noch lange nicht erreicht, man ist daher skeptisch  ■ Von Bill Rolston

Im August 1996 hielt die südafrikanische Menschenrechtsaktivistin Paula McBride im Rahmen des Westbelfaster Festivals „Fele an Phobail“ einen Vortrag, in dem sie über die Wahrheits- und Versöhnungskommission sprach, die in Südafrika ihre Arbeit aufgenommen hatte. Sie gab zu, daß die konkrete Arbeit viele Probleme machte, betonte aber dennoch die Funktion der Kommission, die in ihren besten Momenten all denen eine Stimme gebe, die früher zum Schweigen verurteilt waren.

Ihr Publikum bestand zu einem großen Teil aus ehemaligen republikanischen Häftlingen und Aktivisten, die jahrelang gegen die Menschenrechtsverletzungen des Staates im Norden Irlands gekämpft haben. Kein Publikum hätte ihr mit mehr Aufmerksamkeit und Sympathie zuhören können. Das Paradoxe war: Niemand forderte die sofortige Einsetzung einer ähnlichen Kommission für Nordirland; im Gegenteil. Dieses Publikum zeigte sich skeptisch: Fast einstimmig war man der Meinung, daß eine Wahrheitskommission in Irland verfrüht wäre.

Dieses Paradox wäre einfacher zu erklären gewesen, hätte das Publikum aus Ministern der britischen Regierung bestanden, aus Beamten und Angehörigen der britischen Armee und der Royal Ulster Constabulary (RUC; Polizei Nordirlands, Anm.d.Ü.). Dieses Publikum hätte wahrscheinlich argumentiert, daß keine Notwendigkeit für eine Wahrheitskommission bestehe, da Nordirland als demokratischer Staat über alle Instrumente verfüge, die zur Wahrheitsfindung nötig seien: Gerichtshöfe, gerichtliche Feststellung von Todesursachen bei jedem verdächtigen Tod, unabhängige Untersuchungen, eine aktive Menschenrechtslobby – und eine freie Presse. Zusätzlich seien auch die Sicherheitskräfte dem Gesetz unterworfen und demnach unfähig zu systematischen Menschenrechtsverletzungen, wie sie vielleicht in Militärdiktaturen vorkämen.

Sanktionierte Morde und Justizirrtümer

Und doch sind schwere Verbrechen von staatlichen Kräften begangen und anschließend vertuscht worden: die Morde am Bloody Sunday, dem 30. Januar 1972, als 14 Bürgerrechtsdemonstranten von britischen Fallschirmjägern in Derry erschossen wurden; oder die Hinrichtung von drei unbewaffneten IRA-Mitgliedern in Gibraltar am 8. März 1988 und von drei weiteren Männern, die am 13. Januar 1990 ein Wettbüro auf der Falls Road überfallen hatten – in beiden Fällen waren es britische Zivilfahnder; oder die Tötung von 26 Passanten in Dublin und weiteren sieben in Monaghan am 17. Mai 1974 durch loyalistische Bomben, die, so nicht verstummende Gerüchte, mit Hilfe britischer Agenten ihre Ziele fanden.

Da sind die fragwürdigen Methoden Großbritanniens während des gesamten sogenannten antiterroristischen Kampfes im Norden von Irland: Wie weit oben in der britischen Administration saßen diejenigen, die bestimmte Maßnahmen autorisierten – beispielsweise die „Shoot-to-kill“-Politik, wie sie in den Achtzigern von Kräften der britischen Polizei und Armee undercover praktiziert wurde? Der gewaltsame Tod von sechs Menschen im Jahre 1982 wurde von der unabhängigen Kommission eines hohen britischen Polizeioffiziers, John Stalker, untersucht. Stalker wurde am Ende von seiner Aufgabe entbunden, da er offenbar zu eifrig im Aufdecken der Wahrheit war. Sein Bericht wurde nie veröffentlicht; Stalker selbst war zu dem Schluß gekommen, daß in allen sechs Fällen deutliche Hinweise auf „ungesetzliche Tötungen“ vorlagen.

Dann sind da die vielen Justizirrtümer: Die bekanntesten sind die Fälle der Birmingham-Sechs, der Guildford-Vier, der Familie Maguire und von Judith Ward. Das in Belfast ansässige Committee on the Administration of Justice ist der Ansicht, daß derzeit über 50 Gefangene lange Haftstrafen verbüßen, die ebenfalls in diese Kategorie gehören.

Weiterhin sind da die geheimen Absprachen zwischen britischen Kräften und loyalistischen Paramilitärs. Darunter fallen die Teilnahme des britischen Agenten namens Brian Nelson an den Aktivitäten der loyalistischen Ulster Defence Association, insbesondere bei der Beschaffung großer Mengen von Waffen aus Südafrika, dem Einsatz dieser Waffen bei der Hinrichtung von Nationalisten in den späten 80ern und frühen 90ern, sowie die Lancierung geheimer Sicherheitsakten über republikanische Aktivisten und Sympathisanten an loyalistische Hinrichtungseinheiten. Auch dieser Bericht einer offiziellen Untersuchung über Absprachekomplotte – diesmal unter Vorsitz des britischen Polizeioberen John Stevens – wurde nie veröffentlicht.

Der Gebrauch von Plastik- und Gummigeschossen im Rahmen autorisierter Einsätze von Armee und Polizei kostete siebzehn Menschen das Leben, acht davon waren unter sechzehn Jahre alt.

Staatliche Kräfte haben, besonders wenn es Todesopfer gab, eindeutig straffrei handeln können. Obwohl britische Sicherheitskräfte zwischen 1969 und 1994 in 357 Todesfälle involviert waren, liegt die Zahl gerichtlicher Verfolgung in diesen Fällen sehr niedrig. Lediglich sieben Polizei- und Militärangehörige sind je verurteilt worden, vier wegen Mordes, einer wegen Mordversuchs und zwei wegen Totschlags. Wenn britische Soldaten einmal zu lebenslänglichen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, kamen sie nach weniger als vier Jahren aus der Haft.

Diese Praxis wird zusätzlich begünstigt durch die Behinderung von Mechanismen, die für die Rechtfertigungspflicht aller sorgen sollten: So werden Beweismaterial vor Gericht und gerichtliche Untersuchungen der Todesursache (wie in Gibraltar) nicht freigegeben; oder man entbindet Beschuldigte durch „public interest immunity certificates“ von der Pflicht, vor Gericht zu erscheinen.

Wahrheitssuche ja, aber ohne die Briten

In dieser Situation ist leicht zu verstehen, warum diejenigen, die sich seit Jahren gegen die Aktivitäten des britischen Staates in Irland wehren, wenig Vertrauen in ein weiteres staatlich finanziertes Projekt haben, das angeblich der Aufklärung der Wahrheit dient. Sie alle haben seit Jahren um Wahrheit und Gerechtigkeit gekämpft. Die Hindernisse, die ihnen in den Weg gestellt werden, sind groß, und viele haben einen hohen Preis gezahlt. So wurde der Menschenrechtsanwalt Pat Finucane im Februar 1989 ermordet. Andere wurden inhaftiert, zusammengeschlagen, stigmatisiert und ausgegrenzt. Man wehrt sich nicht gegen die Suche nach Wahrheit, sondern gegen die Beteiligung des britischen Staates daran.

Ob eine Wahrheitskommission in einer Gesellschaft Sinn macht, die sich im Umbruch befindet, hängt vom Gleichgewicht der politischen Kräfte ab. Das ist in Irland noch nicht erreicht. Der Waffenstillstand der IRA vom August 1994 hat auf britischer Seite weder zu größeren Konzessionen geführt noch zu alle Seiten einschließenden Verhandlungen – was die IRA als Grund für ihre Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes im Februar 1996 angeführt hat. In dieser Situation zweifelt kaum jemand daran, daß sich die britischen Behörden keinesfalls gezwungen sähen, die Wahrheit über vergangene Menschenrechtsverletzungen zuzugeben. Vielmehr muß vermutet werden, daß im Falle der Einrichtung einer Wahrheitskommission deren Arbeit eher staatlichen Interessen als denen der Opfer dienen würde. Und daß eine solche Kommission ganz gewiß so besetzt würde, daß weder Wahrheit noch Gerechtigkeit ihr Resultat wäre.

Dennoch sollte die Idee, eine genuine Wahrheitskommission einzurichten, die mit Autorität, Legitimität und allen möglichen Hilfen für ihre Aufgabe ausgestattet ist, nicht völlig von der Hand gewiesen werden. Mit Rücksicht auf die Opfer und weil es um einen reinen Tisch für einen Neuanfang geht, dürfen die Menschenrechtsverletzungen nicht unter den Teppich gekehrt werden. Man könnte sich mit der Prinzipientreue der über alle Zweifel erhabenen irischen Verhandlungsführer trösten, die dies schon nicht zulassen würden. Aber es ist auch anderswo, trotz aller Prinzipien und guten Absichten, schon geschehen. Und paradoxerweise könnte gerade die Tatsache, daß das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen in Irland vergleichsweise gering war – gegenüber Chile und Ruanda etwa –, dazu führen, daß man in zukünftigen Verhandlungen meint, sich auf „wichtigere“ Themen wie Verfassungs- und ökonomische Fragen konzentrieren zu müssen.

Auch wird es dann gewiß nicht an liberalen Stimmen fehlen, die plausibel argumentieren, es sei Zeit, vorwärts zu gehen und nicht ewig in der Vergangenheit zu wühlen. Außerdem wird man es mit äußerst erfahrenen und hartnäckigen Gegnern am Verhandlungstisch zu tun haben, die eine lange imperiale Geschichte des „Teile und herrsche!“ im Rücken haben und wissen, wie man aus drohenden Niederlagen noch Siege schmiedet. Wenn die eigene Position in bezug auf Menschenrechtsverletzungen nicht im voraus ausgearbeitet wird, könnte dieses Thema in der Vielzahl der anderen verschwinden oder abgeschwächt werden. Der Trick ist, wie der chilenische Menschenrechtsanwalt Sergio Hevia Larenas sagte: Wie wäscht man sich den Pelz, ohne sich naß zu machen...? Dafür braucht es gründliche Vorbereitung und Erfahrung, und in der Geschichte anderer Gesellschaften könnte Irland gute Lehren finden.

„Tyrannei der Täter- Opfer-Gleichheit“

Jedem Versuch, Wahrheit und Gerechtigkeit voneinander zu trennen, muß widerstanden werden. Die Wahrheit zu suchen ist für Opfer kein Ziel an sich. Sie müssen die Erfahrung machen, daß das ihnen angetane Unrecht zumindest teilweise gesühnt wird. Und das Bestehen auf Wahrheit und Gerechtigkeit bedeutet auch nicht Schauprozesse und endlose Rache. Es ist möglich, Gerechtigkeit von Recht zu trennen, Untersuchungen und Tribunale auch ohne Verurteilungen und Strafen durchzuführen.

Auch dürfen bei der Verfolgung von Wahrheit und Gerechtigkeit die Untaten der Unterdrückten und der Unterdrücker nicht im selben Licht gesehen werden. In Südafrika haben frühere Freiheitskämpfer diese „Tyrannei der Gleichheit“ problematisiert. Auf den Philippinen hat man beispielsweise beschlossen, daß sich die dortige Wahrheitskommission ausschließlich mit den Verbrechen von Militärangehörigen befassen soll – und zwar mit der Begründung, daß die Gewalttaten der Freiheitskämpfer von der ehemaligen Militärregierung bereits geahndet worden seien.

Vielleicht macht es Sinn, Wahrheit und Versöhnung voneinander zu trennen. In Südafrika kann die Betonung des Vergebens zu einer Waffe werden, die sich leicht gegen die Opfer und schwer gegen die Täter richten läßt. In Nordirland ist diese Betonung der Vergebung zu einem ideologischen Angriff auf die Opfer benutzt worden. Es ist ein Vorgang, in dem deren psychische Verfassung mehr wiegt als die konkreten Gründe dafür, und er dient daher einmal mehr der Leugnung ihres Opferstatus. Konzentriert man sich statt dessen auf die Gründe, akzeptiert man die Tatsache des Unrechts, das ihnen angetan wurde. Immer wieder haben die Leute hier betont, daß sie keinerlei Probleme mit der Vergebung hätten – solange sie wüßten, wem sie zu vergeben haben.

Wie in Brasilien vorgeführt, gibt es mehrere Wege zur Dokumentation der Wahrheit. Obwohl dort keine Wahrheitskommission zustande kam, wurde unter dem gemeinsamen Vorsitz des Kardinals von São Paulo und dem Kirchenoberhaupt der Presbyterianer ein systematischer Bericht über das, was geschehen und den Opfern angetan worden war, vorgelegt.

Dieses Modell ist für die irische Situation nicht so weit hergeholt, wie es scheint. Als nämlich klar wurde, daß die Behörden keinen der Soldaten zur Verantwortung ziehen würden, die direkt oder indirekt an der Tötung von Fergal Caraher und der Verletzung seines Bruders Michael 1990 in Cullyhanna beteiligt waren, formierte sich die Cullyhanna Justice Group. Das internationale Rechtsanwaltstribunal hörte die Aussagen zum Tathergang an und veröffentlichte 1992 einen Bericht. Gleichzeitig wurde der US-Kongreß informiert. Als Folge der Aktivitäten der Cullyhanna Justice Group wurden zwei Soldaten des Mordes an Caraher angeklagt. Zwar wurden sie letztlich für nicht schuldig befunden, aber ohne die Aktionen der Gruppe wäre der Fall überhaupt nicht aufgeklärt worden.

Am Ende ihres Vortrags hielt Paula McBride ein leidenschaftliches Plädoyer. Sie wies darauf hin, daß es unter einer vom ANC geführten Regierung immer noch ANC-Gefangene gebe, und drängte die Republikaner unter ihren Zuhörern, die auf ihre Verhandlungschance noch warten müssen, „keine Gefangenen hinter sich zu lassen, egal wie schnell oder langsam ihr vorwärtskommt“. Das gilt auch für Opfer von Menschenrechtsverletzungen.

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