Was vom Ekel übrigblieb

Vierzehn Jahre Kanzler Helmut Kohl und die deutschen Linken – eine unerfreuliche Zwischenbilanz  ■ Von Christian Semler

Am 29. September 1982, drei Tage vor dem konstruktiven Mißtrauensvotum gegen Helmut Schmidt, veröffentlichte die Redaktion der taz einen offenen Brief an Franz Josef Strauß. Im Ton gespielter Verzweiflung bitten die tazler den CSU-Chef flehentlich, in Gottes und Bayerns Namen die Wahl Helmut Kohls zum Bundeskanzler zu vereiteln. Die „Anti-Seifenoper- Koalition“, die Strauß angeboten wird, richtet sich gegen den „Frankenstein des deutschen Spießertums, zusammengesetzt aus verschiedenen Elementen ungelüfteter deutscher Ecken“, gegen die „schweißgebadete Null“, die Mittelmaß zu nennen eine Beleidigung dieses Standards wäre. „Die Welt“, so die taz, „würde sich kranklachen über den häßlichen Deutschen.“

Erfrischende Worte und doch so fremdartig heute wie Signale aus einem weit entfernten Sternensystem. Der Ekel war damals noch frisch, die Verachtung unverbraucht. Auffallend die Kategorie des „Spießers“. Unabhängig von ihren politischen Schicksalen in den siebziger Jahren einigte die in der taz versammelten Linken (und nicht nur sie) die Angst vor einem Rückfall in die fünfziger Jahre, ins stickige Universum der Pflichterfüllung und der Bescheidung, der Familien- und der Vaterlandsliebe. Der „Über-Lübke“ würde, auch für die Linken!, das Ansehen Deutschlands mindern, das doch durch Brandts bewegende Visionen wie durch Schmidts eisigen Pragmatismus eine so spektakuläre Aufwertung erfahren hatte.

Mit dem Versprechen, eine „politisch-moralische Wende“ einzuläuten, war Kohl an die Macht gelangt. Der „kritische Rationalismus“ Schmidts, der sich der Wertevermittlung „von oben“ hartnäckig verweigerte, verfiel ebenso der Verurteilung wie die kulturrevolutionären Umtriebe der 68er, die die westdeutsche Leistungsgesellschaft auf die schiefe Bahn gebracht hatten. Doch merkwürdig: Die große Gegenreformation blieb aus. Die Idee der Verpflichtung auf das große Ganze erlebte keine Renaissance. Es war der Konservative Karl Heinz Bohrer, der Kohl damals bescheinigte, er stelle nichts anderes dar als eine rechte Variante der Betroffenheitskultur, der trüben Vermischung des Privaten und Politischen. Ein Produkt eben der neuen, bundesrepublikanischen Normalität.

Auch diejenigen der zahlreichen Linken, die in Kohl einen gelehrigen Schüler der eisernen Lady erkannten und von ihm den finalen Angriff auf den Sozialstaat erwarteten, um nicht zu sagen: ersehnten, wurden enttäuscht. Der Reformpolitik der frühen siebziger Jahre hatte die Regierung Schmidt das Sterbeglöckchen geläutet. Von ihr ging die Rückkehr zu einer rigorosen Angebots-Wirtschaftspolitik aus, von ihm, Schmidt, und nicht von Kohl stammte der monströse Satz „Mehr Investitionen führen zu mehr Arbeitsplätzen“; Schmidt war es, der die Großprojekte des befürchteten Atomstaats auf den Weg brachte. Unter seiner Regierung konnte der Chef des Bundeskriminalamtes, Horst Herold, sich an die Verwirklichung des „Sonnenstaates“ machen. Es gab kein Politikfeld, auf dem die Kohl-Regierungen der achtziger Jahre nicht dort weitergemacht hätten, wo Helmut Schmidt am 1.Oktober 1982 Einhalt geboten worden war: Verwirklichung einer korporativen Interessenpolitik im Dreiklang von Staat, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften, schrittweise, im Konsens erreichte Verschiebung der Gleichgewichte nach rechts.

So wie der Sozialdemokratie der reformerische Elan war Ende der siebziger Jahre der radikalen Linken ihr revolutionäres Projekt abhanden gekommen. Eine doppelte negative Erfahrung hatte bei den Revolutionären zum Bruch geführt. Ursprünglich hatte die Idee des Sozialismus von der Hoffnung gelebt, daß mit der Revolution die Produktivkräfte befreit und den Individuen damit allseitige Entwicklung möglich werde. Nahezu alles sollte nach der Befreiung von der kapitalistischen Fessel machbar sein. Jetzt bewiesen die ökologischen Fakten, daß wenig bis nichts mehr ging. Die zweite Erfahrung: die Folgen revolutionärer Gewalt, weltweit und in der Bundesrepublik.

Politisch führte diese doppelte Ernüchterung der radikalen Linken in den 80er Jahren nicht zu einem neuen politischen Projekt, sondern zum Rückzug ins Gesellschaftliche, in die „neuen sozialen Bewegungen“. „Gesellschaft gegen Staat“ wurde zur Quintessenz des Denkens, das jetzt in Mode kam. Daneben aber blieb eine Art schwiemelige Erinnerung an die sozialistischen Hoffnungen zurück, die die meisten Linken daran hinderte, die Zeichen der Agonie zu erkennen, in die die realsozialistischen Gesellschaften zunehmend verfielen. Nicht nur die Regierung Kohl lebte im Juste-milieu. Auch die Linken richteten sich in ihm ein, mit dem Rücken zur Mauer und zu den demokratischen Bewegungen Osteuropas. An die Stelle der verbrauchten politischen Kategorien trat nichts Neues. Vor allem nichts, was zur konkreten Analyse einer konkreten Situation befähigt hätte.

Das rächte sich bitter im November 1989. Hilflos und handlungsunfähig starrten die Linken von Oskar Lafontaine bis zu den (damaligen) Grünen auf die politische Dynamik, die auf einen raschen Vereinigungsprozeß der beiden deutschen Staaten zusteuerte. Nachdem die Ostdeutschen sich weigerten, den von den westlichen Linken erträumten „dritten Weg“ in die Tat umzusetzen, blieb nur der Ekel vor der angeblichen Konsumgier der Ossis, blieb die Warnung vor „Kolonialisierung“, vor „Großdeutschland“. Kohl hingegen steuerte mit einer nie für möglich gehaltenen Tatkraft von seinem Zehn-Punkte- Plan bis zum Abschluß des 2+4- Abkommens den ganzen politischen Prozeß. Und dies nicht etwa, weil er, weit vorausschauend, den Rückzug der Sowjetunion aus Osteuropa von vornherein ins Kalkül gezogen hätte. Er griff nur beherzt nach dem berühmten Zipfel der Geschichte. Er nutzte die Stunde.

Auch die Linken hätten damals „ihre Stunde“ haben können. Auf Kohls schließlich erfolgreichen Versuch, die DDR dem politisch- gesellschaftlichen System der Bundesrepublik einzugemeinden, hätte sie mit einer politischen Bewegung antworten können, die Hannah Arendt einmal als constitutio libertatis, als Akt der Freiheitsbegründung bezeichnet hat. Die Errungenschaften der Bürgerbewegung in der DDR hätten in dieses Projekt ebenso eingehen müssen wie die Ergebnisse von mehreren Jahrzehnten demokratisch-zivilisatorischer Entwicklung in der alten Bundesrepublik.

Weil sich die Linken in ihrer Überzahl der constitutio libertatis verweigerten, wurden sie nach 1990 von den Normalisierungswellen im Kohlschen Deutschland erneut überflutet. Als es 1992 um die Abschaffung des Asylartikels im Grundgesetz ging, stand den Linken, einschließlich der linken Sozialdemokraten, keine Strategie zur Verfügung, die das Bedürfnis nach Eingrenzung des Arbeitsmarktes (Können die Sozialsysteme ohne eine solche Eingrenzung funktionieren?) vermittelt hätte mit dem universalistischen Anspruch, allen Flüchtlingen Schutz zu bieten.

Ebensowenig herrscht bis heute Klarheit darüber, welche Rolle die Bundesrepublik bei der internationalen Friedenssicherung und bei der Verteidigung der Menschenrechte spielen sollte. Ob sich Deutschland mit bewaffneten Streitkräften an der Ifor in Bosnien beteiligen sollte oder nicht, kann nur geklärt werden, wenn die Frage beantwortet wird, was künftig des Nationalstaats, was Europas und was der UNO sein soll. Das gleiche gilt schließlich für die Standort-Demagogie Kohls, der nur zu begegnen wäre, wenn es auf seiten der Linken ein realistisches Projekt nicht nur für den nationalstaatlichen und europäischen, sondern darüber hinaus für den globalen sozialen Ausgleich gäbe.

Kohl hatte es nie nötig, sich Anstrengungen dieser Art zu unterziehen. Auch auf seine alten Tage wird er kein Kanzler werden, der, wie die konservative Revolutionärin Margaret Thatcher, auf die Errichtung einer „anderen Republik“ samt dazugehörigem Überbau scharf wäre. Die schwankenden Mauern des Sozialstaates werden weiter gestützt werden. Wo abgeholzt wird, soll es wie jeher schleichend gehen, im Konsens der Tarifparteien, mit Einwilligung der Opfer. Wer sich hiergegen versündigt, kurzen Prozeß machen will, zur Generalattacke auf die Gewerkschaften bläst, der wird vom Kanzler im Regen stehengelassen, auch wenn er bislang zu seiner Lieblingsklientel gezählt hatte. Kohl weiß, wie weit er gehen kann – heute eine beträchtliche Wegstrecke. Daß das Postulat des Sparens, daß die Rücksicht auf die angeblichen Imperative des internationalen Wettbewerbs jetzt so weitgehend akzeptiert werden, ist ein später Triumph der „politisch-moralischen Wende“. Er wurde ohne Kampf erreicht, ohne „Gegenreformation“. Die Angst hat ihn bewirkt – und die Abwesenheit einer linken Alternative, das heißt eines politischen Projekts, das nachholte, was 1990 versäumt worden ist. Und wodurch die Linken so weit hätten gebracht werden können, sich auf eine prinzipiengeleitete Realpolitik zu verständigen. Mit der Verwandlung des diffusen Plurals Linke in den eindeutigen Singular ist sowieso nicht zu rechnen. Erfreulicherweise.

Fest steht heute, Kohl steht fest. In seiner ungeschlachten, von den schönheitsliebenden Linken verabscheuten Leibesfülle. Springt die Konjunktur neu an, und hält sie bis ins Jahr 1998, kann er seinem fünften Wahlsieg in Folge entgegensehen. Wo aber stehen die Linken? In der Person ihres auf handliche Ausmaße zurechtgehungerten Vorkämpfers Joschka Fischer studieren wir die Wandlungen desjenigen Teils der Linken, der auf politische Intervention nicht verzichten will, ehe er in die Grube fahren muß.

Fischers Vorstellung eines europäisierten Deutschland, das jeder Vorstellung von „Sonderweg“ und „Mittellage“ entschlossen den Rücken kehrt, ist so weit nicht entfernt von der Staatsräson, der auch der Kanzler folgt. Könnte es sein, daß Kohl, der Antiideologe, der Aussitzer und Problemablagerer, mit seiner Insistenz auf der europäischen Integration doch ein politisches Feld besetzt hat, auf das die Linken zumindest (Mit)Eigentumsrechte beanspruchen müssen? Ist Kohl am Ende doch ein Überzeugungstäter, dem zugebilligt werden muß, er habe mit seiner lebenslangen, inbrünstigen Europaleidenschaft dem neudeutschen Nationalismus den Weg versperrt und gleichzeitig, wenngleich unfreiwillig, der Linken den europäischen Weg geöffnet? Könnte, was fürs Wohlergehen deutscher Unternehmer gedacht war, die europäische Integration, sich nicht auch als segensreich erweisen für die „Lohnabhängigen“ und für die, die keines von beiden sind, aber auch gern erträglich leben wollen?

Dies anzuerkennen, bedeutet noch lange nicht, bei der Schar der Enkel Adenauers Einlaß zu begehren. Die Rehabilitierung der fünfziger Jahre, eine unter Kulturlinken in den letzten Jahren beliebte Übung, basiert auf schlechtem Gedächtnis und verlorenem Vertrauen ins eigene, universalistische Erbe. Keiner weiß, wer die Linken sind, aber in jeder beliebigen Frage der Tagespolitik zeigt sich, daß sie existieren. Sie leben samt ihrer Tradition, ihren nicht eingelösten Versprechen, ihren verlorenen Idealen und weiterhin gehätschelten Illusionen. Ein schwacher Trost, aber der einzige. Bis jetzt hieß es, die Linken kommen und gehen, Kohl bleibt. Es ist Zeit, daß der Spruch umgedreht wird, ehe die Biologie alle Fragen löst.