: „Wegmachen können wir hier nichts“
Es gibt keine sicheren Prognosen: Für Therapeuten ist die Arbeit mit Sexualstraftätern eine Gratwanderung zwischen dem verurteilten Verbrecher und dem hilfebedürftigen Patienten ■ Von Daniela Weingärtner
Dunstiges Blau über sehr grünen Hügeln. Schräg einfallendes Herbstsonnenlicht. Das Bergische Land zeigt sich von seiner besten Seite. Eingebettet in die Vorortidylle aus Schieferhäuschen liegt die Justizvollzugsanstalt Remscheid, die aus einem geschlossenen Bereich für 540 Häftlinge und einem Freigängerheim mit 200 Plätzen besteht.
Unmerklich geht die Wohnsiedlung in das JVA-Gelände über. Nur ein Verkehrsschild, das 10 Stundenkilometer im Anstaltsbereich vorschreibt, und die rote Klinkermauer mit Glaspforte zeigen an, wo man sich hier befindet. Jetzt schlendert ein kleiner Junge ins Blickfeld, die Schultasche in der Hand. Könnte man dieses Bild einfrieren, hätte man die quälende Diskussion der vergangenen Wochen darüber, wie eine Gesellschaft mit unberechenbaren Verbrechern umgehen soll, in einem Blick zusammengefaßt. Das Kind, klein und verletzlich, und dahinter die Mahnung aus Messing an der Gefängnismauer: „Zum Gedenken an die in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1933–54 zu Unrecht inhaftierten Menschen.“
Die neue Zielsetzung im Strafvollzug, die sich aus dem Bruch mit dem nationalsozialistischen Erbe entwickelt hat, wird in Remscheid in den Haftalltag übersetzt. Der denkmalgeschützte Kreuzbau der geschlossenen Abteilung stammt aus dem Jahr 1905. Aber das geschäftige Gewusel auf den Fluren, wo die Häftlinge unter lockerer Aufsicht auf dem Weg in die Werkstätten, zur Dusche oder zu ihrem Sozialarbeiter sind, entspricht dem Vollzugsstil der 70er Jahre.
Wer über diese Schwelle tritt, rutscht schnell in die Täterperspektive, klammert den Schuljungen auf der anderen Seite der Mauer aus seinem Bewußtsein aus. Freundliche junge Männer werken in der Anstaltsschreinerei, ein Mann in Kochmontur verläßt seine sauber aufgeräumte Zelle. Die Vorstellungskraft sträubt sich, das friedliche Bild beim Rundgang durch die Anstalt mit dem Abscheu und Entsetzen in Einklang zu bringen, das manche Fallschilderung aus Remscheid auslöst.
Auch die Therapeuten sind ständig in Gefahr, sich mit ihren Patienten auf einen stummen Pakt zu verständigen. Gerade Sexualstraftäter möchten den grausamen, dämonischen Teil ihres Selbst am liebsten verdrängen. Sie wollen nicht darüber sprechen, was sie empfinden, wenn sich ihr Horror vor sich selbst in den Augen eines Opfers spiegelt.
Der Anstaltspsychologe Erich Heischkamp hat seine eigene Theorie, warum die Mischung aus Verdrängung und überbordenden Gefühlen bei den Fachleuten drinnen genauso zu beobachten ist wie an den Stammtischen draußen: „Wir wollen nicht wahrhaben, daß die Lust am Quälen in der Welt ist – daß sie auch in uns selbst ist.“ Ist sie wirklich in uns allen? Oder ist sie in der männlichen Hälfte dieser Gesellschaft? In der Hälfte, die den Strafrahmen festgelegt hat und für den Dämon im Manne Verständnis zeigt? Heischkamps Kollegin Anette Hillesheim denkt über diese Frage lange nach. Dann sagt sie zögernd: „Der Dämon ist in der Welt. Denken Sie nur an Jugoslawien. Auch in mir selbst spüre ich etwas davon.“
Was den Strafrahmen angeht, sind sich alle Anstaltsmitarbeiter ohne Zögern einig: Es gibt ein krasses Mißverhältnis zwischen den Strafen für Drogen- und Eigentumsdelikte und den Strafen für Übergriffe auf Personen. Längere Strafen würden auch mehr Chancen für die Therapie bedeuten. Aber den Strafrahmen können nur die Politiker ändern. Der Therapeut soll Hilfe anbieten und Prognosen darüber abgeben, ob der Patient sein Verhalten in Zukunft besser steuern kann.
Seit kurzem gibt es in Remscheid einen Neubau, in dem die Räume für Langzeitbesuche und die Sprechzimmer der Psychologen untergebracht sind. In den Fluren spielen Kinder Verstecken, und auf der grünen Couchgarnitur sitzen sich die Eltern etwas ratlos gegenüber. Als Papa noch „draußen“ war, waren sie einander nie in dieser Weise ausgeliefert – ohne Kneipe, ohne Schicht, ohne Fernseher sieben Stunden am Stück zusammen.
Am Freitagnachmittag ist dieser Trakt leergefegt. Dann spürt Anette Hillesheim manchmal so ein mulmiges Gefühl im Hinterkopf, wenn sie einen Patienten aus dem Hafthaus abgeholt hat und vor ihm her zu ihrem Zimmer geht. Furcht vor dem Patienten würde eine Therapie unmöglich machen. Aber Sorglosigkeit könnte ihr selbst zum Verhängnis werden. „Wenn ich so einem gegenübersitze und die Alarmglocken nicht mehr schrillen, obwohl ich die Akte kenne, dann frage ich mich schon manchmal, was mit mir los ist.“ Die innere Einstellung zum Täter, der auch Patient ist, bedeutet für den Therapeuten im Vollzug eine Gratwanderung.
Fünfzig der hier inhaftierten ledigen Männer und Familienväter fallen unter die Rubrik „Sexualstraftäter“. Sie alle sind zu längeren Haftstrafen verurteilt worden, weil sie das sexuelle Selbstbestimmungsrecht eines anderen Menschen schwer verletzt haben. Ihre Akten sind so unterschiedlich wie ihre Lebensgeschichten. Die vier Anstaltspsychologen bemühen sich, Tätertypen sichtbar zu machen. Aber jeder Versuch zersplittert in Ausnahmen. Will Erich Heischkamp einer Tätergruppe den Stempel „narzistische Persönlichkeitsstörung“ aufdrücken, hat seine Kollegin gleich die Ausnahme parat, die die Regel nicht bestätigt.
Nur in einer Hinsicht stimmen die Remscheider Fälle miteinander überein: Alle Täter haben eine günstige Kurzzeitprognose. Sie ist in Hagen erstellt worden, eine halbe Autobahnstunde von Remscheid entfernt. Hier leistet sich das Land Nordrhein-Westfalen den hohen Personalaufwand einer Diagnoseeinrichtung. Alle Verurteilten, die mehr als zwei Jahre Haft vor sich haben, werden sechs Wochen lang seelisch durchleuchtet. Gespräche mit Angehörigen, Informationen aus dem Briefwechsel, die Einschätzung des Anstaltspersonals vervollständigen das Bild. Danach entscheidet ein dreiköpfiges Gremium aus Juristen und Psychologen, welche Anstalt und welche Form des Vollzugs für den Häftling am besten geeignet sind.
Auch in Hagen sind die Anstaltspsychologen dazu bereit, der Besucherin von draußen ihre Kriterien für eine Entscheidung zu erläutern. Auch in Hagen schüttelt jeder Kollege über die Kategorien des anderen den Kopf. Ist jener Täter eher triebanomal krank oder disozial kriminell? Alle sind sich einig, daß Menschen nicht in solche Schubladen gepackt werden können, daß es aber gerade die Aufgabe der Mitarbeiter in Hagen sein muß, für jeden Häftling die richtige Schublade zu finden. Das Gespräch, für eine halbe Stunde angesetzt, dauert den ganzen Nachmittag. Die alten Hasen, jahrelang erfahren im Konflikt zwischen Vollzug und Therapie, lassen sich doch wieder von ihren Gefühlen mitreißen. Echtes Mitgefühl ist zu spüren, wenn von einem Pädophilen berichtet wird, „der es einfach nicht lassen kann. Ein schlichtes Gemüt, völlig ungeeignet für eine Therapie. Nach spätestens sechs Monaten ist der wieder drin.“ Überhaupt müsse sich der Laie von der Illusion verabschieden, „daß wir denen die Pädophilie wegmachen“. Im besten Fall könne ein Mensch hier lernen, seine Neigung unter Kontrolle zu halten.
Wenn es sich um einen Täter handelt, der im Familienumfeld „gewildert“ hat, wie die Fachleute die sexuelle Gewalt für den Hausgebrauch umschreiben und sich selbst leichter erträglich machen — verändert sich die Situation schon durch die Haft. Hat ein Kind seinen Vater durch seine Aussage ins Gefängnis gebracht, geht darüber meist die Familie in die Brüche. Dieser Tätertyp, dem die Fassade der Gutbürgerlichkeit über alles geht, werde sich dann „mit größter Wahrscheinlichkeit“ nicht an fremde Kinder heranmachen. Manchmal schlagen sich die Mütter aber auch auf die Seite der mißbrauchenden Biedermänner. Die Kinder werden dann ein weiteres Mal zu Opfern: Sie kommen ins Heim oder werden durch Drohungen zum Stillhalten gebracht.
Nach Ansicht der Hagener Psychologen ist die oft wiederholte Behauptung, psychiatrische Einweisung bedeute mehr Schutz für die Gesellschaft, ein Mythos. Das größte Gefahrenpotential entstehe nicht im Vollzug, sondern gerade in den psychiatrischen Abteilungen — was im Maßregelvollzug arbeitende Therapeuten wiederum entschieden bestreiten würden. Die Einweisung kann anstelle einer Haftstrafe angeordnet werden. Sicherungsaspekte treten in den Hintergrund: „Wenn der Therapeut dort sagt, der muß mal gelockert werden, dann lockern die den – weil das der Behandlung dient.“
Auch in Remscheid geht es bei den Freigängern im offenen Bereich des Vollzugs ausgesprochen locker zu. Alle Sexualstraftäter müssen diese Stufe durchlaufen, bevor sie endgültig entlassen werden. Die Anlage für 200 Häftlinge mit Etagenküchen, Sporträumen und Telefonzellen ist wie ein Lehrlingswohnheim eingerichtet und nicht von der Außenwelt abgezäunt. Für sein Zimmer besitzt jeder einen eigenen Schlüssel.
Beim Rundgang lädt der Leiter des offenen Bereichs zum Vergleichen ein: „All das Personal, die freundlich ausgestatteten Räume. Da gehen Sie mal in ein Altersheim, wie da gespart wird.“ Dann zögert er. „Andererseits, wenn wir nur bei einem von hundert was bewegen, hat es sich doch gelohnt.“
Nur selten meldet sich abends jemand zu spät zurück. So viel Fügsamkeit bei den schweren Jungs erklärt Anstaltsleiter Wolfgang Wernke damit, daß schon kleine Verstöße gegen die Spielregeln Rückverlegung ins Hafthaus bedeuten können. „Die Freigänger sind nicht unser Problem. Aber was machen Sie mit jemandem, der eine schlechte Prognose hat, der Therapie nicht zugänglich war und seine Strafe vollkommen abgesessen hat?“ Wolfgang Wernkes Kinder leben wie die Kinder vieler Anstaltsmitarbeiter in der Nachbarschaft. Hat er keine Angst, daß es seine Familie einmal treffen könnte? Der jugendlich wirkende Chef mit Goldrandbrille lacht und zieht den Helm über die halblangen Haare. Er startet seinen kleinen roten Roller und sagt: „Ich bin auf dem Bauernhof groß geworden. Der Marder hatte sein Nest direkt über dem Hühnerstall. Da hab' ich gelernt, daß Fuchs und Marder nie in der unmittelbaren Nachbarschaft wildern.“
Auch für die alte Bauernregel gibt es eine Ausnahme: den Marder, der allen Prognosen zum Trotz in der Nachbarschaft gewildert hat. Der Täter war ein Freigänger. Sein Opfer war die Tochter eines Arbeitskollegen. Ihr Name: Nathalie Astner.
zum gleichen Thema siehe Seite 12
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