Kommentar
: Die neue Offenheit

■ Von heute an haben viele Geschäfte länger geöffnet

Endlich bekommt die Entspannung Methode. Einkaufen ist nun montags bis freitags bis 20 Uhr und jeden Sonnabend bis 16 Uhr möglich. Und, mal ehrlich, auch für diejenigen, die immer dagegen waren, eröffnen sich jetzt neue Perspektiven. Freitag Teestube, Theater, Techno und Trance, am anderen Morgen vorsichtiges Erwachen gegen zwölf, Café au lait um eins, dann eine kurze Tour durch die Boutiquen, ab 15 Uhr der Einkauf fürs Wochenende. Das Geschiebe samstags kurz vor und nach zwei hat ein Ende. Kein Drängeln mehr. Die anderen, die ja immer das Gehetze verursachen, werden jetzt eigene Wege gehen. Wer heute später ins Bett geht, hat morgen genug Zeit, das Nötige für das Wochenende zu besorgen. Dagegen ist der 16-Uhr-Ladenschluß für alle, die Freitag zeitig ins Bett gegangen sind, belanglos. Sie sind am frühen Nachmittag sonstwo, nur nicht beim Shoppen.

Vornehm formuliert: Die neue Offenheit erweitert den Aktionsradius, der dem bewußten Verbraucher für Preis- und Qualitätsvergleich zur Verfügung steht. Nun lohnt die weiteste Anfahrt, wenn Schränke, Schuhe oder Gartengeräte auf der Einkaufsliste stehen. Die spielerische Weise, in der Zeitplanung nun möglich ist, eröffnet ein weiteres Feld, auf dem wir uns aneinander vorbeibewegen können.

Jede Woche Weihnachten – ein Kindertraum wird wahr. Das Bündnis der Christen und der Liberalen hat die Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft vorangebracht und damit die Zeitbeschränkung des Konsumierens gelockert. Wie schön: Wir sind erwachsen und bestimmen selbst, wann wir was wollen.

Die Individualität, Optionalität, Flexibilität, kurz: die Befreiung von strukturellen Zwängen hat eine Regierung vollbracht, die für ihr Vorhaben auch Wähler anderer Parteien gewinnen konnte. Doch nicht alle, die für längere Öffnungszeiten sind, werden sie voll auskosten können: Jeder zehnte Privathaushalt in Nordrhein-Westfalen beispielsweise ist pleite.

Die neue Offenheit verändert den öffentlichen Raum. Er ist weiter geworden, aber wahrscheinlich wird er dafür auch kälter sein.

Schade eigentlich, daß alle unterwegs sein werden. Man müßte sich mal wieder treffen. Jürgen Rinderspacher

Mitarbeiter am Sozialwissenschaftlichen Institut der Evangelischen Kirche Deutschlands in Bochum