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„Global agierendes Nischenunternehmen“

Serie „Industriestadt Berlin auf dem Prüfstand“ (Folge 4): Der Pharmakonzern Schering ist erfolgreich, ein medizintechnisches Zentrum aber ist die Stadt nicht. Erbgutmanipulation sichert gefährdete Stellung auf dem Weltmarkt  ■ Von Hannes Koch

Schering ist heute wieder da angekommen, wo man vor 125 Jahren begann – auf höherem Niveau allerdings. Alles nahm seinen Ausgang von einer kleinen Apotheke in der Chausseestraße, in der Firmenvater Ernst Schering einfache Arzeneien, Salben und Tinkturen mixte. Auf der Suche nach einem Verjüngungsmittel für den Mann entdeckten die Chemiker mit mehr Glück als Absicht ein Mittel, das später als „Piperazin“ verkauft wurde und Gichtkranken einige Linderung verschaffte. Die Pharmafabrik war geboren.

Nach Irrungen und Wirrungen, Erfolgen und Skandalen „sind wir jetzt zu unserem Kerngeschäft zurückgekehrt“, erklärt Firmensprecherin Astrid Drabant-Schalbach. Während der Konzern in den sechziger und siebziger Jahren seine Produktionspalette auffächerte und zeitweise auch Industriechemikalien herstellte, wurde mittlerweile alles außer der Arzneimittelproduktion wieder abgestoßen. Diese Selbstbescheidung konnte sich der Weltkonzern aus dem Wedding leisten, weil einige geniale, wenn auch höchst umstrittene Entwicklungen genug Geld in die Kassen brachten. Dazu gehört die Verhütungspille. Die Firma war das erste Unternehmen außerhalb der USA, das die sogenannten oralen Kontrazeptiva herstellte.

Die 125 Schering-Jahre spiegeln gleichzeitig den Aufstieg und Fall der Industriestadt Berlin. Schering ist gewissermaßen ein Überrest einstiger Wirtschaftskraft der Gesamtstadt, eine lebendige Erinnerung an die Vergangenheit. Alle anderen ehemals in Berlin beheimateten Konzerne packten am Ende des Zweiten Weltkrieges oder kurz danach ihre Koffer und zogen in die kapitalistische Sicherheit Westdeutschlands. Schering blieb hier – und nimmt seitdem eine Ausnahmestellung ein.

Der Konzern ist das größte Unternehmen, das seine Verwaltungszentrale inklusive Forschungsabteilung an der Spree beließ. Damit ist Schering auch eines der wenigen originären Pfunde, mit dem die Stadt auf dem Weltmarkt wuchern kann. Zwar verfügen auch andere weltweit agierende Unternehmen wie Siemens und Daimler über Niederlassungen in Berlin, doch letztendlich werden deren Entscheidungen über hiesige Produktionen woanders gefällt. Vor diesem Hintergrund wird klar, woran es Berlin mangelt: Unternehmenszentralen. Schering ist eine der wenigen Wasserstellen in der Wüste der Deindustrialisierung.

An dieser besonderen Stellung des Betriebes müssen diejenigen Politiker ihre Visionen messen, die davon träumen, die neue Hauptstadt zur Metropole im Weltmaßstab zu machen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, gelang die Ansiedlung von Unternehmenszentralen an der Spree bisher nicht und wird auch noch lange auf sich warten lassen.

Selbst für die Medizin- und Biotechnologie sieht es nicht so gut aus, wie manche Wahrsager weismachen wollen. Wirtschaftssenator Elmar Pieroth (CDU) gilt die Branche zwar als Hoffnungsträger: Mehr Einnahmen für die Stadt und Arbeitsplätze für die Zukunft seien garantiert. Doch die Stadtsoziologen Dietrich Henckel und Heinrich Mäding vom Deutschen Institut für Urbanistik meinen, daß „Berlin die funktionalen Spezialisierungen fehlen, die in der Regel selbstverstärkende Prozesse der ökonomischen Entwicklung auslösen“. Die Möchtegern-Metropole hat ihre Stellung im nationalen und internationalen Städtesystem noch längst nicht gefunden.

Hamburg gilt als Pressestadt, Köln glänzt mit den elektronischen Medien, Frankfurt mit seinen Banken und München als Zentrum der Luftfahrtindustrie. Doch was ist Berlin? Schering und die etwa 300 kleineren Betriebe, die sich in der Region Berlin-Brandenburg der Medizin- und Biotechnologie widmen, machen die Spreestadt noch nicht zur Medizinmetropole.

Von diesem Mißstand zeugen auch die relativ unterentwickelten Verflechtungen der einzelnen hier ansässigen Unternehmen. Kooperation gibt es zwar in Forschung und Entwicklung, aber produziert wird woanders. So auch bei Schering. Sämtliche Wirkstoffe für Arzeneimittel werden im nordrhein- westfälischen Bergkamen hergestellt. Im Wedding preßt man das Material nur zu Tabletten und verpackt es. Berliner Zulieferbetriebe haben an dieser Produktionskette kaum Anteil. Schering als isolierter industrieller Kern macht noch keine gesunde Wirtschaftsstruktur.

Im Gegensatz zum anhaltenden Niedergang der hiesigen Industrie ist der Konzern aber auf dem Weg der Besserung. Nach einem Umsatz von 4,6 Milliarden Mark 1995 und einem Gewinn von 249 Millionen, peilt man dieses Jahr ein Rekordergebnis an. Wenn in der kommenden Woche die Zahlen für das abgelaufene Geschäftsjahr vorgestellt werden, könnte sich der Gewinn verdoppelt haben. Positiv zu Buche schlägt auch der Verkaufserfolg des soeben eingeführten Präparats Betaseron gegen die Krankheit Multiple Sklerose.

Zuvor allerdings hatte das Unternehmen harte Zeiten hinter sich zu bringen. Seit den achtziger Jahren wurde die „größte Umstrukturierung der Unternehmensgeschichte“ durchgesetzt, wie Sprecherin Drabant-Schwalbach erläutert. Das Unternehmen verkaufte seine Sparten Galvanotechnik und Industriechemikalien komplett, weil man dem Druck der großen Konkurrenten nicht standhalten konnte. Auch die Pflanzenschutz- abteilung wurde herausgelöst und mit den entsprechenden Einrichtungen der Firma Hoechst in der gemeinsamen Tochter AgrEvo zusammengelegt. Von fast 27.000 Beschäftigten (1990) sind noch 19.000 übriggeblieben. Etwa 5.700 von ihnen arbeiten in Berlin. Auch die mit dem Personalabbau einhergehende Kostenreduzierung trägt nun in Form steigender Gewinne die vom Management erwünschten Früchte.

Neben der Schrumpfung auf das profitable Kerngeschäft bedeutet Strukturwandel bei Schering vor allem radikale Innovation der Produktpalette. Mehrmals schon brachte der Konzern so rechtzeitig neue Produkte auf den Markt, daß sie im Spannungsverhältnis zwischen neuen gesellschaftlichen Bedürfnissen und abnehmenden politischen Hemmnissen eine Art Kulturrevolution in Gang setzten. Zwar widmete sich das Unternehmen schon seit den 30er Jahren der Erforschung der menschlichen Sexualhormone. Doch mit der Produktion der Verhütungspille „Anovlar“ seit 1961 verhalf man dem Eingriff in den menschlichen Organismus in einer umfassenderen Dimension zur gesellschaftlichen Akzeptanz. Schering macht seitdem Geld mit der neuen Art der Selbstbestimmung von Frauen und profitiert von der Auflösung traditioneller gesellschaftlicher Strukturen. An der Zahl der abgesetzten Packungen gemessen, ist der Betrieb bei der „Pille“ mit knapp 30 Prozent Weltmarktführer. Und man bläst weiter zum Sturm auf Gesellschaften, die der Globalisierung der hormonellen Verhütung noch nicht Tür und Tor geöffnet haben. Weil der hiesige Pillenmarkt zur Zeit wenig Wachstum zeigt, ist nun Japan im Visier. Dort ist die Pille nach Angaben von Schering noch verboten. Mit dem Verkauf von anderen Arzeneimitteln will man das deutsche Markenzeichen bekannt machen und so eine Bresche schlagen. Dieselbe Strategie verfolgt das Unternehmen in China.

Mit Tabubrüchen ähnlicher Güte verdient die Hoechst-Schering-Tochter AgrEvo („Agrar Evolution“) ihr Geld. Die ChemikerInnen verändern das Erbgut von Raps, Sojabohnen und anderen Wirtschaftspflanzen mit gentechnischen Methoden. Dadurch werden die Pflanzen resistent gegen Unkrautvernichtungsmittel, die AgrEvo ebenfalls herstellt. Im Zuge dieser „integrierten Pflanzenproduktion“ bietet man den Bauern genmanipuliertes Saatgut und Pestizide im Doppelpack an, was auch doppelten Profit bringen soll.

KritikerInnen argumentieren dagegen, daß genmanipulierte Lebensmittel auf der ganzen Welt verbreitet werden, wobei die Effekte für den menschlichen Körper gar nicht abzuschätzen seien. Außerdem leiste die Resistenz gegen bestimmte Pestizide deren hemmungslosen Einsatz Vorschub. Gegenwärtig werden AgrEvos Gewinnerwartungen noch dadurch geschmälert, daß allein 1996 in der Bundesrepublik zehn Testäcker mit Genpflanzen von Chemie-KritikerInnen zerstört wurden. Trotzdem rangiert AgrEvo – die Zentrale residiert in Berlin – bei manchen Produkten umsatzmäßig in der Spitzengruppe der weltweit größten Unternehmen.

Die teils mit fragwürdigen Produkten erzielten wirtschaftlichen Erfolge können nicht darüber hinwegtäuschen, daß Schering auf möglicherweise schwankendem Boden steht. Im Vergleich zu den Giganten der chemischen Industrie wie Hoechst, BASF und dem schweizerischen Superkonzern Novartis (fusioniert aus Ciba- Geigy und Sandoz) verfügt der Weddinger Betrieb nur über einen bescheidenen Umsatz. „Wir sind ein global agierendes Nischenunternehmen, das von seinen Spezialprodukten lebt“, definiert Sprecherin Drabant-Schwalbach. Als fast reine Pharmafirma hat Schering möglicherweise nicht ausreichend Kapital im Rücken, um sich feindlichen Übernahmeversuchen der Branchenriesen zu erwehren. Über die Konzentration der Konzerne zu Lasten von Schering sind immer Gerüchte im Umlauf, doch ebenso oft werden sie von der Konkurrenz dementiert. Schlägt schließlich doch jemand zu, würde auch Berlins größter einheimischer Betrieb zu Filiale eines transnationalen Konzerns.

Zum Weiterlesen: „Schering: Die Pille macht Macht“. Hrsg: Henry Mathews. Stuttgart 1992

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