: Am Rande der Geschichte
Im Osten Zentralasiens liegt Kirgistan. Es hat viele Kulturen, viele Völker. Die meisten Kirgisen leben auf dem Land, aber wegen der schlechten Versorgung hat auch jeder Städter seinen Garten. Eine Reise zu deutschstämmigen Kirgisen und zu den Nomaden in die Berge ■ Von Andrejs Gramatins
Die Tupolew der Kirgistan Air aus Frankfurt erreicht die Hauptstadt Bischkek im Morgengrauen. Der Blick aus dem Fenster zeigt eine weite Ebene, den Fluß Tschu. Dörfer, in denen kein Licht brennt. Am Flughafen erwartet mich Martha Stirner. Die Lehrerin aus Tübingen hatte nach 14 Jahren Schuldienst in Baden-Württemberg genug. Sie wollte noch etwas anderes sehen, bewarb sich für den Auslandsschuldienst. Sie träumte von einer Stelle in Afrika oder Südostasien – und landete in Kirgistan.
Ich fahre mit ihr nach Dschany Pachta, dem Ort, an dem sie vor zwei Jahren erstmals kirgisische Schüler vor sich hatte. Ein 2.500-Seelen-Dorf, 60 Kilometer von der Hauptstadt Bischkek entfernt. Noch 1991 waren 80 Prozent der Bewohner Deutschstämmige. Heute, nach Beginn der Übersiedlungswelle, sind nur wenige übriggeblieben. Ich treffe Lidia Fuchs. Die Rentnerin in grüner Kittelschürze mit aufgedruckten gelben Blümchen fällt ihrer ehemaligen Deutschlehrerin um den Hals. Sie stellt einen Topf mit Brühe auf den Tisch, einen Teller Fleisch, Quark und den Tschainik, die obligatorische Teekanne. Ihr Tag hat um fünf Uhr begonnen, mit melken, den Garten gießen, Frühstück machen, dann Brot backen, Beeren pflücken, einkochen und so weiter. „So geht das vom Morgen bis zum Abend“, sagt sie. Und fragt uns, was wir für Mittel gegen Kartoffelkäfer kennen. „Früher“, sagt sie, „als es die Sowchose noch gab und das Flugzeug, aus dem regelmäßig Pflanzenschutzmittel versprüht wurden, gab es noch keine Kartoffelkäfer, heute muß ich die Stauden täglich absuchen.“ Früher, das war im Sozialismus, als Dschany Pachta im fruchtbaren Tiefland die halbe Republik mit Tomaten, Melonen, Getreide und Zitronen versorgte. Heute liegt ein Großteil der Felder brach, es gibt kein Benzin für die Traktoren. Es gibt auch kein Holz für die Schreinerei, die Arbeiter werden zusammengerufen, wenn gerade mal wieder ein Baum gefällt wurde. Das frische Holz wird sofort zu Stühlen, Tischen oder Fensterrahmen verarbeitet. Statt Lohn bekommen die Schreiner abends Gutscheine für eine Fuhre Klee. Kein Grund für Lidia Fuchs, sich zu beschweren.
In ihrem Leben hat sie schon ganz andere Zeiten mitgemacht. Nach dem Überfall der Nazis auf die Sowjetunion waren alle Deutschstämmigen der Kollaboration verdächtig. Sie wurden in Arbeitslager gesteckt, bauten mit wenig mehr als ihren Händen Fabrikanlagen, Staudämme, Eisenbahnlinien. Bis 1955 galten für sie Sondergesetze. Der Wohnort wurde ihnen zugeteilt, sie durften ihn nie ohne Sondererlaubnis verlassen. Bis heute nennt man uns Faschisten, Fritze oder Nazis, sagt Lidia, immer müssen wir ruhig sein. Die Erinnerung an die Diskriminierungen ist heute noch das stärkste Motiv für den Aussiedlungswunsch.
Lidias jüngste Tochter kommt zum Mittagessen, ihr Schulabschluß war so gut, daß sie ohne jede weitere Ausbildung eine Stelle als Lehrerin im Nachbardorf bekam. „Reicht mein Deutsch zur Aussiedlung“, fragt sie. Seit diesem Sommer müssen Deutschstämmige auf der Botschaft eine Sprachprüfung bestehen. Sie haben ihr Deutsch nur daheim gelernt und sprechen oft Dialekte, wie sie hier längst ausgestorben sind. Sie haben eigene Wörter für Neuerfindungen geprägt, wie „Fußwagen“ für Fahrrad. „Finden Sie heraus, was die auf der Botschaft fragen“, gibt uns Lidia Fuchs beim Abschied mit. Die Pizzeria Altair gilt als schick in Kirgistans Hauptstadt Bischkek. Sieben künftige Deutschlehrerinnen haben sie ausgesucht, um mit ihrer Dozentin Martha Stirner das Semesterende zu feiern. Nachmittags um drei, denn hier geht man abends nicht gerne aus. Die Angst vor der Kriminalität ist so groß, daß selbst Opernaufführungen am Nachmittag beginnen. Auch in der 600.000-Einwohner-Stadt sind nur wenige Durchgangsstraßen beleuchtet.
„Pischpek“ wurde Ende des 19. Jahrhunderts im strengen Schachbrettmuster entworfen, neben jede Straße wurden zwei doppelte Baumreihen gepflanzt. Ein Segen im heißen Sommer, nachts ist es jedoch auf den Fußgängerwegen völlig dunkel. Die Regenwasserkanäle liegen offen am Wegrand, und immer wieder fehlen Schachtdeckel. Das eingeschmolzene Metall soll sich auf dem Basar gut verkaufen lassen. Auch das Kupfer der Telefonkabel, die nur wenige Zentimeter unter den Wiesen und Feldern vergraben sind.
Eine der Deutschstudentinnen fehlt. Sie hat die paar Pfennige nicht zusammengebracht, die die Busfahrt aus ihrem Heimatdorf nach Bischkek gekostet hätte. Wovon die Menschen hier leben, wird mir die ganze Reise über ein Rätsel bleiben. Kirgistan gilt als Musterland für Wirtschaftsreformen in der ehemaligen Sowjetunion. Präsident Askar Akajew hat das Land bedingungslos den Anforderungen der Weltbank unterworfen. Unter westlichen Ökonomen wird Kirgistan als „Schweiz Mittelasiens“ bezeichnet, ein Lob, das die Kirgisen bitter bezahlen müssen. Nur zehn Prozent der Arbeitnehmer verdienen ein Gehalt von mehr als 600 Som, das sind umgerechnet 75 Mark im Monat. Eine kleine Wohnung kostet 200 Som im Monat, für Lebensmittel reichen 250 Som kaum aus. Selbst die niedrigen Gehälter sind unsicher. Rentner und Staatsbedienstete mußten in diesem Mai schon auf zwei Monatsgehälter warten, laut Gewerkschaftsbund standen zum Jahreswechsel insgesamt 200 Millionen Som an Gehältern aus.
Selbst in Bischkek gibt es überall Gärten, in denen Tomaten oder Kartoffeln angebaut werden. Schon am Rand der Hauptstadt stehen Kühe und Schafe im Gras. Viele Kirgisen behelfen sich mit Mehrfachjobs. Eine Nachbarin von Martha Stirner ist Opernsängerin, unterrichtet am Konservatorium, verdient aber einen Großteil ihres Lebensunterhalts in einem der unzähligen Kioske in Bischkek, die bis spät in die Nacht offen haben, in denen es Zigaretten, Wodka, Kekse, Snickers und Champagner zu kaufen gibt.
Es ist nicht leicht, sich zu unterhalten in der Pizzeria Altair. Denn wie in jeder kirgisischen Gaststätte dröhnt auch hier russische Discomusik aus den Lautsprechern. Maria Tkatschenko, die einzige Deutschstämmige in der Lehrerinnengruppe, erzählt mir trotzdem, wie gerne sie einmal das Land sehen würde, aus dem ihre Vorfahren stammen. Sie denkt nicht an Übersiedlung. Ihr Mann ist Russe. Mehr als 200 Jahre ist es her, daß ihre Vorfahren – Mennoniten aus Friesland – vor religiöser Verfolgung nach Rußland geflohen sind. Damals versprach Zarin Katharina allen Neuansiedlern in den leeren Weiten Rußlands Land. Darüber hinaus versprach sie Steuerund Religionsfreiheit sowie Freiheit vom Militärdienst. „Das Deutsche liegt im Blut“, sagt Maria. Szenenwechsel. Anatoli, der Bergführer, kommt aus dem Kaukasus. Daß er Russe ist, ist ihm erst seit der Unabhängigkeit Kirgistans so richtig klargeworden. Anatoli Uljantschenko holt uns ab zur Fahrt in die Berge. Der Fahrer Sergej hat seinen alten russischen Militärlaster vor dem Haus geparkt, mit dem er abwechselnd kanadische Geologen, deutsche Bergtouristen und amerikanische Mountainbiker transportiert. Genauso wie Sergej hat er sich einmal in der Gegend umgeschaut, die plötzlich als seine Heimat galt – und ist schnell wieder nach Kirgistan zurückgekehrt. Was soll ich in Rußland, sagte er. Hier bin ich groß geworden, hier kenne ich mich aus. Hier sind die Menschen viel freundlicher. Und trinken nicht soviel, ergänzt Sergej. Beide sehen der angekündigten nationalen Offensive des Präsidenten gelassen entgegen. Schon viele Ankündigungen von Politikern haben sie erlebt, sie wissen, daß in diesem Land am Rande der Geschichte im Alltag doch wieder alles gelassen geregelt wird.
Burana war das erste Etappenziel der Seidenstraße hinter dem himmelhohen Tienschan-Gebirge. Das in den siebziger Jahren restaurierte Minarett ist der Rest einer uralten Siedlung. Aus der hügeligen Wiese nebenan erheben sich an die hundert steinerne Köpfe, müde mit geschlossenen Augen und fast eingesunken im wilden Hafer die einen, andere hoch aufgereckt, ein Buch in der Hand, ein Glas. Ein buddhistischer Friedhof, schreibt ein Reiseführer. Ein Heiligtum für die, die die schwere Bergetappe glücklich hinter sich gebracht haben, schreibt ein anderer. Gleich daneben eine Handvoll Stelen mit dem Halbmond und arabischen Schriftzeichen. Auch Muslime haben hier Erinnerungen hinterlassen.
Am nächsten Tag bauen wir unsere Zelte wieder an der Seidenstraße auf. Diesmal bei einer Karawanserei aus dem 10. Jahrhundert. Ein massiver Steinklotz auf 3.000 Metern Höhe, ohne Fenster, gekrönt von einer Kuppel. Den Schlüssel gibt es in einem Häuschen nebenan. Eine achtköpfige Familie lebt hier, mehr als fünfzig Kilometer vom nächsten Ort entfernt. Hier oben wächst kein Getreide, keine Kartoffel. Drei Männer reiten die paar Meter zu uns herüber und fragen, ob wir Pferde mieten wollen, ob sie uns morgen auch ein Schaf schlachten sollen. Sie jedenfalls essen jeden Tag ein Schaf.
Wir sind schon ein ganzes Stück auf dem Rückweg, als ein kleines Schottersteinchen den Kühlschlauch durchschlägt. Macht nichts, sagt Anatoli, eine Jurte müßt ihr sowieso besuchen, wenn ihr in Kirgistan seid. Geht doch einfach zu der da drüben, während wir hier das Auto reparieren. Eine Jurte ist in Kirgistan mehr als ein großes Zelt, das die Hirten im Sommer benutzen. Sie ist ein Symbol der Zeit, in der alle Kirgisen noch Nomaden waren – und das ist gerade mal hundert Jahre her. Wie ein Vogelkäfig schützt ein nachgebildetes Jurtengestell viele Gräber. Auch der Tote soll sich zu Hause fühlen. Und der junge Staat Kirgistan hat sich ein denkbar friedliches Staatswappen ausgesucht: die Sonne, die durch das Oberlicht der Jurte scheint.
Für Turdubek Kanapijajew sind wir keine lästigen Schaulustigen. Wer in einer Jurte wohnt, sagt er, freut sich über Besuch. Den ganzen Sommer wohnt er unter den wasserdichten Filzmatten, zweimal zieht er mit seiner Pferdeherde um, wenn es im Sommer heiß ist, weit hoch in die Berge. Nur im Notfall transportiert er das 500-Kilo-Zelt in Pferdeanhängern, viel lieber ist es ihm, wenn er einen Traktor leihen kann. Gibt es in Deutschland auch so viele Pferde wie hier, will er von uns wissen. Und als wir ihm etwas von Reitvereinen erzählen, vermutet er, daß bei uns wohl das Auto das bedeutet, was in Kirgistan das Pferd ist.
In der Halle des Bischkeker Flughafens erkenne ich schon die Aussiedler, die sich endgültig von diesem Land am Rande der Welt auf den Weg nach Deutschland machen. In den prallen Plastiktüten zeichnen sich riesige Emailleschüsseln ab, aus anderen schauen die Schwänze geräucherter Karpfen heraus.
Der Empfang in der neuen Heimat ist frostig. Unauffällig umstellen einige Sicherheitsdienstleute die Tupolew, die ersten Grenzschützer lassen sich schon am Fuß der Gangway die Pässe zeigen. Mit meinem weinroten winken sie mich durch, die blauen der Aussiedler werden sorgfältig geprüft. Die Aussiedler wissen, was sie erwartet. Fast alle haben mittlerweile Verwandte in Deutschland, Arbeitslosigkeit und Aufnahmelager sind keine Fremdworte. Aber sie haben wohl alle Sätze im Ohr, wie sie Lidia Fuchs in Dschany Pachta sagte: Wer schafft, der fürchtet sich vor gar nichts. Wer faul ist, der hat's immer schwer.
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