■ Unterlagen aus den Archiven der amerikanischen Geheimdienste belegen erneut den frühzeitigen systematischen Mord der Nazis an den Juden in der Sowjetunion. Den Akten zufolge wußten die Verbündeten davon - ohne etwas zu unternehmen: Das lan
Unterlagen aus den Archiven der amerikanischen Geheimdienste belegen erneut den frühzeitigen systematischen Mord der Nazis an den Juden in der Sowjetunion. Den Akten zufolge wußten die Verbündeten davon – ohne etwas zu unternehmen
Das lange Schweigen der Westalliierten
Es ist der 8. Dezember 1942. Franklin D. Roosevelt empfängt im Weißen Haus den zu dieser Zeit wohl prominentesten Vertreter der amerikanischen Juden: den Rabbiner Dr. Stephan Wise. Dieser bittet den Präsidenten dringend, doch dafür zu sorgen, daß die Regierung sich um weitere Aufklärung über die Ermordung der Juden in Europa bemüht und daß sie eine „offizielle Warnung“ an Deutschland richtet.
Roosevelt beruhigt Wise. Man habe bereits „genügend Informationen“ um eine „offizielle Warnung“ aussprechen zu können. Neun Tage später veröffentlichen die westlichen Alliierten eine Erklärung, in der sie die von den Nationalsozialisten betriebene „bestialische Politik kaltblütiger Vernichtung“ verurteilen.
Die Frage ist, was wußten die Amerikaner, was ihre Alliierten zu diesem Zeitpunkt wirklich über die „bestialische Politik kaltblütiger Vernichtung“.
Unbestritten ist nach dem bisherigen Forschungsstand, daß sowohl die amerikanische Regierung, seit Dezember 1941 im Krieg mit Deutschland, Großbritannien, sowie das Internationale Rote Kreuz in Genf über eine Vielzahl von Informationen über das Schicksal der Juden in ganz Europa verfügte. Die präzisesten Meldungen hatte ab Sommer 1942 der Völkerrechtler Gerhard Riegner an den amerikanischen Unterstaatssekretär Sumner Welles weitergeben. So berichtete er diesem Anfang August, daß Hitler den Befehl für eine „Endlösung“ gegeben habe, und sogar, daß die Nazis mit „Blausäure“ Juden vergasen würden.
Das Rote Kreuz hatte ebenfalls von der polnischen Exilregierung aus London genaue Berichte erhalten über die Errichtung von Ghettos, Konzentrationslagern und über „Aussiedlungen“, die mit dem Tod endeten. Und auch über einzelne Massaker an Juden in den von den Nazis besetzten Gebieten in der Sowjetunion und Lettland wußte man in Genf Bescheid.
Nachzulesen ist all dies in den Büchern von Walter Laqueur („Terrible Secret“, 1980), Martin Gilbert („Auschwitz and the Allies“, 1981) und Jean-Claude Favez, („Warum schwieg das Rote Kreuz?“, 1988). Ihre Forschungen mündeten immer in der Feststellung, daß während des ganzen Zweiten Weltkrieges die Juden die Sache der Alliierten zu ihrer eigenen machten, aber umgekehrt die Alliierten sich nicht um die Juden kümmerten. Denn erst im Januar 1944 lockerte die amerikanische Regierung mit dem War Refugee Board ihre rigiden Einwanderungsbeschränkungen, die sie im Sommer 1941 durch die Schließung ihres Konsulatsnetzes sogar noch verschärft hatten. Und auch die Briten verschärften während des Krieges ihre Einwanderungskontrollen nach Palästina.
Die Frage, was die Alliierten über den Mord an den Juden wußten und warum sie sie im Stich gelassen haben, erhält durch die jetzt freigegebenen Akten der National Security Agency (NSA) in Washington neue Aktualität. Wie gestern berichtet, liegen seit kurzem im Lesesaal der National Archives die von den Briten dechiffrierten Funksprüche zwischen Befehlshabern deutscher Polizeieinheiten in der besetzten Ukraine und Weißrußland und Berliner Stellen aus, und zwar ab Juli 1941.
Das Brisante an diesen Funksprüchen ist, wenn die Informationen der International Herald Tribune so stimmen, erstens die Kontinität der Nachrichtenübermittlung ab dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion und zweitens die Absender. Denn sie könnten beweisen, was bisher unbekannt ist, nämlich, daß die Alliierten offensichtlich im Detail nicht nur über einzelne Massaker, sondern über die ganze Dimension des systematischen Völkermords Bescheid wußten. Damit stellen sich eine ganze Menge neuer Fragen über die praktizierte, restriktive alliierte Einwanderungspolitik.
Und zweitens bedeuten die abgefangenen Funksprüche, daß der Forschung ein bisher völlig unbekannter Quellenbestand zur Verfügung steht. Bisher war man bei der Holocaust-Forschung immer auf schriftliche Quellen angewiesen, oder auf spätere Prozeßunterlagen. Die jetzt freigegebenen Funksprüche sollen unter anderem die beiden höheren SS- und Polizeiführern Friedrich Jeckeln (bis Oktober 1941 Heeresgruppe Süd, dann Nord- und Ostland) und Erich von dem Bach-Zelewski (bis November 1941 Heeresgruppe Mitte, dann Beauftragter des Reichsführer SS für die zentrale „Bandenbekämpung“ in den Ostgebieten) an ihre Vorgesetzten vom Reichssicherheitshauptamt (RSHA) geschickt haben. Und zwar angeblich fast täglich.
Die Vorgesetzten waren Heinrich Himmler und der Chef der Ordnungspolizei innerhalb des RSHA, Kurt Daluege.
Ob dieser neuer Quellenbestand allerdings das bisherige Wissen über die Beteiligung der Ordnungspolizei am Holocaust über den Haufen wirft, ist mehr als fraglich. Denn die von Richard Breitmann in der Herald Tribune genannten Beispiele, etwa das Massaker in Slonim (Weißrußland), bei dem Bach-Zelewskis Männer am 17. Juli 1941, 1.153 „jüdische Plünderer“ erschossen, oder der ebenfalls genannte Bericht vom 7.August 1941, wonach in Bach- Zelewskis Operationsgebiet 30.000 Juden exekutiert wurden, sind den deutschen Historikern, allerdings aus anderen Quellen, gut bekannt. Hans-Heinrich Wilhelm etwa hat diese „Aktionen“ schon in seiner 1974 verfaßten Dissertation „Die Einsatzgruppe A der Sicherheitspolizei und des SD 1941/42“ beschrieben. Dennoch, so Wilhelm im Gespräch mit der taz: Allein die Chance, den Wahrheitsgehalt der vorliegenden schriftlichen Quellen an den Funkmeldungen an das RSHA direkt zu überprüfen, zu modifizieren, zu ergänzen, sei eine „aufregende Sache“. Anita Kugler
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