: Alleingang zwischen Prut und Dnjestr
In der multinationalen Republik Moldowa herrscht Friede. Jetzt wird der Präsident gewählt. Konsens bei allen Kandidaten ist: Das Land soll unabhängig bleiben ■ Aus Chisinau Paul Hockenos
In der Nicolae-Iorga-Straße hängt eine verblichene rumänische Flagge träge über einem hölzernen Hauseingang. In der Zentrale der prorumänischen Nationalisten Moldowas im alten Judenviertel der Hauptstadt Chisinau knarren die Dielen, und der Wind pfeift durch große, leere Räume. An einer Wand hängt eine gegliederte demographische Karte, auf der die Karpaten und die Gebiete um das Schwarze Meer eine Konzentration „dacia-romanischer“ Herkunft nachweisen. Die Grenzen des heutigen Rumänien sind mit einem Leuchtstift umzeichnet, so daß sie auch Moldowa, kleine Stücke der Westukraine und Bulgariens umschließen – und sogar eine Scheibe Ostungarns.
Ein paar Schritte weiter auf dem unbeleuchteten Gang führt das Geklapper einer mechanischen Schreibmaschine zu Petru Bogatu, dem Chefredakteur des vierseitigen nationalistischen Wochenblattes Tara. „Moldowa gehört zu Rumänien“, sagt er ganz selbstverständlich, „und eines Tages wird es auch wieder ein Teil Rumäniens sein – aber nicht jetzt. Die Menschen hier sind einfach noch nicht soweit. Sie wurden unter dem Kommunismus einer Gehirnwäsche unterzogen und haben vergessen, wer sie sind und wo sie hingehören. Das müssen sie erst wieder lernen.“ Oder auch nicht. Denn die überwiegende Mehrheit der 4,4- Millionen-Einwohner-Republik Moldowa stehen fest hinter der Unabhängigkeit ihres Landes. Und keiner der neun Präsidentschaftskandidaten, die sich vergangenes Wochenende zur Wahl stellten, wollen die Unabhängigkeit Moldowas antasten.
Selbst Bogatu gibt zu, daß die hitzigen Tage der frühen Neunziger eine Ewigkeit her sind, damals, als ihr Büro von jungen Freiwilligen und Besuchern aus Rumänien überquoll. Moldowa hatte soeben die sowjetische Herrschaft abgeworfen. Und die Rumänischsprachigen, zwei Drittel der Bevölkerung, entdeckten wieder ihre Kultur, die unter dem Kommunismus unterdrückt worden war. Damals schien die (Wieder-)Vereinigung Rumäniens mit seiner ehemaligen Ostprovinz Bessarabien ebenso unmittelbar bevorzustehen. Aber seitdem hat sich viel geändert.
1991 erklärte und sicherte Moldowa, die ehemalige Sowjetrepublik Moldawien, seine Unabhängigkeit. Die prorumänischen Nationalisten setzten restriktive Sprach- und Staatsangehörigkeitsgesetze durch, die später wieder zurückgenommen wurden. 1992 kam es kurzzeitig zu einem kurzen blutigen Bürgerkrieg mit Transnistrien (siehe Kasten). Ein Teil des Landes blieb in den Händen russischer Separatisten.
Internationales Lob für Moldowas Führung
1994 entschieden sich die Wähler in einer Volksabstimmung mit überwältigender Mehrheit gegen eine Vereinigung mit Rumänien – ein ernüchternder Schlag für die rumänischen Verfechter der Vereinigung. Internationale Diplomaten loben Moldowas gemäßigte Führung und auch die Nachbarn Rumänien, Ukraine und Rußland, weil sie den Abrutsch des Landes in einen längeren Konflikt vermieden haben. „Präsident (Mircea) Snegur verdient viel Lob dafür“, sagt Gerrit Timmer, ein höherer Unterhändler in der OSZE-Mission in Moldawien. „Er ist ein stabilisierender Faktor.“
„Moldawien ist stabil und unabhängig, trotz Snegur“, sagt dagegen Wladimir Solonari, der Vorsitzende des Parlamentsausschusses für Minderheiten und Menschenrechte. Sein Kandidat ist Petru Luschinski, ein ehemaliger Kommunist und Sprecher des Parlaments. Sowohl Luschinski als auch Premierminister Andrei Sangeli, Snegurs aussichtsreichste Rivalen, stehen den Russen freundlicher gegenüber als Snegur, der die Unterstützung der prorumänischen Nationalisten genießt.
„Die nationalen Minderheiten trauen Snegur nicht“, sagt Solonari und bezieht sich dabei auf Russen, Ukrainer, Gagausen und Roma, zusammen ein Drittel der Bevölkerung. „Sie erinnern sich noch an sein Verhalten 1990–92, als er für die Vereinigung war. Damals spuckte er nationalistische Töne. Jetzt steckt er mit den Nationalisten wieder unter einer Decke.“
Tatsächlich trauen die meisten Menschen überhaupt keinem Politiker. Es beschäftigt sie auch nicht sonderlich, daß in ihrem multinationalen Land Friede herrscht. Die Möglichkeit, daß Moldowa das gleiche Schicksal wie Bosnien hätte erleiden können, ist für viele unvorstellbar. „Rumänen, Russen, Ukrainer und Gagausen, wir sind immer gut miteinander ausgekommen“, sagen sie. „Wir sind in die gleichen Schulen gegangen und haben untereinander geheiratet“, sagen sie. „Bosnien, das ist weit weg“, sagen sie. Und auf den Straßen von Chisinau scheinen ethnische Spannungen tatsächlich weit entfernt.
Auf dem lokalen Markt ist Russisch die Alltagssprache, selbst unter Moldawiern. In den staatlichen Behörden ist Rumänisch die Amtssprache, Russisch genießt einen Sonderstatus. Valentina Borodina, eine 26jährige rumänische Moldawierin, schickt ihre beiden Jungen in eine der russischen Schulen, die noch immer die besseren Bücher und Lehrer haben – sechs Jahre nachdem rumänische Schulen gegründet werden durften. „Die Ausbildung ist besser. Wenn die Kinder etwas werden sollen, muß man sie dorthin schicken.“
„Ich bin Moldawierin“, sagt sie. „Eine rumänische Moldawierin. Wir unterscheiden uns von den Rumänen“, lacht die Musiklehrerin. „Ich glaube, wir sind auch ein bißchen russisch geprägt. Ich sage, wir sind Sowjetrumänen.“ Vor ein paar Jahren war Valentina für die Vereinigung mit Rumänien. Aber jetzt weiß sie gar nicht mehr warum. „Heute gibt es wichtigere Dinge, die uns Kopfzerbrechen bereiten“, sagt sie.
In Moldowa ist der wirtschaftliche Niedergang das wichtigste Thema – für alle Nationalitäten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion brach Moldowas Wirtschaft auseinander. Die Inflation stieg auf zweitausend Prozent, und mit dem Verlust der östlichen Märkte und billiger Energielieferungen gingen in vielen Fabriken die Lichter aus. Seit 1990 ist das Bruttosozialprodukt um sechzig Prozent gefallen.
Heute beträgt der Durchschnittslohn 30 Dollar monatlich (nicht mal halb soviel wie in Rumänien). Viele Menschen haben seit Monaten kein Gehalt mehr gesehen. Wochenlang gab es weder heißes Wasser noch Gas. Abends erinnern die unbeleuchteten Straßen an die finstersten Zeiten der Ceaușescu-Diktatur in Rumänien.
„Nach Moldowa bin ich immer glücklich, wenn ich in die Bequemlichkeiten Rumäniens zurückkehre. Es ist wie im Westen“, sagt Raluca, ein Arzt aus Bukarest, der in Chisinau arbeitet. „Früher waren wir die reichste Republik der Sowjetunion“, sagt Maria, eine siebzigjährige ehemalige Bergarbeiterin, die jetzt Zigaretten und Schokoriegel verkauft. Sie hat seit drei Monaten ihre Rente nicht erhalten. „So schlimm war es hier noch nie“, sagt sie.
Aber in den Einschätzungen der Weltbank und des Internationalen Wührungsfonds sieht das ganz anders aus. Die internationalen Geldgeber betrachten die Entwicklung in Moldowa als Erfolg, sogar als Modell für die übrigen GUS-Staaten. Tatsächlich hat Moldowa seit drei Jahren eifrig eines der strengsten Austeritätsprogramme der Region durchgeführt. Die Inflation ist unter zwanzig Prozent gefallen, und die Währung, der Leu, hat sich seit 1993 gegenüber dem Dollar behauptet.
„Es hat ein paar sehr wichtige Ergebnisse gegeben“, sagt James Parks vom Büro der Weltbank in Chisinau. „Ich glaube, die Wirtschaft hat die Talsohle endlich durchschritten. Jetzt müßte es aufwärtsgehen.“ Die Industrieproduktion soll dieses Jahr zum erstenmal wieder steigen. Parks ist natürlich erfreut, daß alle Präsidentschaftskandidaten die Richtlinien der Weltbank und des Weltwährungsfonds einhalten wollen.
Druck auf Transnistrien bleibt folgenlos
Alle Wahlkampfrivalen sind sich auch darin einig, daß die separatistische Transnistrische Republik wieder unter die Kontrolle der Zentralregierung in Chisinau kommen muß. Die Frage lautet allerdings, wie denn den selbsternannten stalinistischen Führern der Republik die Macht entwunden werden soll – sie werden von sechstausend Mann russischer Truppen gestützt, die sich noch auf ihrem Territorium aufhalten. „Die Führung in Transnistrien ist mit ihrem gegenwärtigen Status von Gesetzlosen zufrieden“, sagt Solonari, der Sprecher der Minderheiten. „Sie können tun, was sie wollen, ohne jede demokratische oder internationale Kontrolle.“
Heftiger wirtschaftlicher und diplomatischer Druck aus Rußland, der OSZE und dem Westen konnte den Führern Transnistriens nichts anhaben. Sie haben die bitterarme Region zu einer Zuflucht für mafiaähnliche Strukturen aller Art gemacht. Kein Pfennig an internationaler Hilfe oder ausländischen Investitionen ist in die abgefallene Republik geflossen. Der Durchschnittslohn beträgt fünf Dollar monatlich.
Sangeli und Luschinski sind für eine Regelung, die den Transnistriern eine weitgehende Autonomie einräumt, ähnlich der der türkischsprechenden Gagausen-Minderheit im Süden Moldowas. Snegur ist vorsichtiger und befürchtet, eine solche Regelung könne Moldowas territoriale Integrität gefährden. „Die Transnistrien-Frage könnte schon morgen gelöst sein“, sagt Timmer von der OSZE. „Nur eine kleine Gruppe von Extremisten dort blockiert den gesamten Prozeß.“
An einem Samstagnachmittag in Tiraspol, der Hauptstadt von Transnistrien, ist das Ostufer des Dnjestr von Anglern gesäumt, die gelegentlich einen Fisch herausziehen, der ein bißchen größer ist als der Köder. „Jeder weiß, daß unsere Führer ein Haufen Kriminelle sind“, sagt Juri, ein Zimmermann. „Aber was können wir schon tun? Wir angeln, um unsere Familien zu ernähren.“
Andere beten die Propaganda ihrer Führung Wort für Wort nach. In einem kleinen staatlichen Laden, dessen Regale nur spärlich mit Dosen voller Möhren und roter Bete gefüllt sind, sind zwei ältere Männer nach dem Pilzesammeln eingekehrt. Jeder legt 50.000 transnistrische Rubel (rund 30 Pfennig) auf den Tisch, für einen Krug hausgemachten Apfelwein. Keiner will den Dnjestr überqueren, um sich an den Wahlen in Moldowa zu beteiligen. „Unsere Führung hier sorgt gut für uns“, sagt einer der beiden. „Snegur und seine Freunde in Chisinau wollen uns zu Rumänien bringen. Sie wollen uns unsere Schwerindustrie nehmen“, sagt der andere. „Das letzte, was wir wollen, wäre der Status einer Minderheit in Rumänien“, sagt er.
Obwohl derzeit in Transnistrien keine Schüsse fallen und internationale Unterhändler einer Kompromißlösung näherzukommen scheinen, weist die empfindliche Gleichung Moldowas eine neue Variable auf. Nachdem in Rumänien die frühere Opposition in die Regierung gewählt wurde, könnte von dieser Seite die Grenzfrage wieder neu gestellt werden. Der rumänische Präsident Ion Iliescu und seine Partei hatten in der Moldawien-Frage Distanz gewahrt. Aber für einige rumänische Parteien, die jetzt an der Macht sind, ist und bleibt die Vereinigung mit Moldowa noch nicht vom Tisch. Aber wie es ein junger Mann in Bukarest kürzlich ausdrückte: „Das Problem ist, daß sie uns nicht genauso sehr wollen wie wir sie. Daran können wir nichts ändern.“
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