: Schlimmstenfalls die unkontrollierte Kernschmelze
■ Schwedisches AKW lief eine Woche ohne Notkühlsystem gegen Kernüberhitzung
Stockholm (taz) – Ein Atomreaktor läuft eine Woche lang ohne ein zentrales Notkühlsystem – und niemand merkt etwas. Er wird in dieser Zeit wegen technischer Probleme und eines Ventilwechsels nicht weniger als dreimal angefahren, und jedesmal wird übersehen, daß die Sprinkleranlage, die den Reaktorkern im Falle eines Rohrbruchs kühlen und vor einer Kernschmelze bewahren soll, vom Stromsystem abgekoppelt und damit funktionsunfähig ist. Das Betriebspersonal hatte weder eine Warnleuchte übersehen noch gegen zwingende Betriebsroutinen verstoßen: Der Fehler ist wegen angeblicher Unwahrscheinlichkeit nicht vorgesehen.
„Wir können doch nicht für jede Funktion ein Warnlicht oder eine Alarmglocke installiert haben. Da gäbe es ja im Kontrollraum ein nicht endendes Blinken und Klingeln“, sagt Georg Bissmarck, Chef des Atomkraftwerks Oskarshamm an der südschwedischen Ostseeküste. Seit Freitag vorletzter Woche lief hier unbemerkt einer von drei Atomreaktoren ohne das fragliche Notkühlsystem. Die möglichen Folgen schätzt Bissmarck realistisch ein: „Im schlimmsten Fall eine unkontrollierbare Kernschmelze.“
In Oskarshamm ist damit einer der schwerwiegendsten Fehler in einem schwedischen AKW passiert. Seit August war Oskarshamm 2 wegen Reparaturarbeiten abgeschaltet gewesen. Beim Wiederanfahren hatte niemand daran gedacht, die abgestellte Stromzufuhr für das Notkühlsystem des Reaktorkerns wiederanzustellen. Diese Funktion des ständig in „stand-by“-Stellung stehenden Systems galt als so grundlegend, daß ein Test weder in den entsprechenden Checklisten aufgeführt noch auch nur im Kontrollraum ein einziges Meßinstrument die Ein- oder Ausschaltung dieses Notkühlsystems signalisiert. Ein zentimetergroßer Indikator in einem Nebenraum mit Stromsicherungen, der einmal die Woche kontrolliert wird, ist die einzige Stelle, an der der Fehler aufgefallen wäre.
Oder erst wenn der Wasserkreislauf des Reaktors unterbrochen worden wäre. Dann hätte sich der Reaktorkern entleert und erhitzt. Innerhalb weniger Minuten wäre eine Kernschmelze die Folge, wenn nicht schnell das Notkühlsystem hochgefahren worden wäre. Ein Geschehensablauf, der bei einem 27 Jahre alten Siedewasserreaktor, in dessen Rohrsystem außerdem Risse festgestellt wurden, nicht weit hergeholt erscheint. Der Fall ist jedoch kein Novum. Das Stockholmer Svenska Dagbladet wußte am Wochenende aus internen Rapporten von mehreren derartigen Zwischenfällen in den vergangenen Jahren zu berichten. Sie beruhten auf „hoher Arbeitsbelastung, fehlerhaften Instruktionen, Kommunikationsproblemen und nicht übermittelten Informationen beim Schichtwechsel“. Schwedens Atomindustrie hatte übrigens in derselben Woche eine millionenschwere Anzeigenkampagne gestartet. Die richtet sich gegen den noch für diese Legislaturperiode geplanten Ausstieg aus der Atomkraft. Es gebe keine technischen, sondern nur politische Gründe, schalte man die sicheren schwedischen Kernkraftwerke vorzeitig ab. Das Motto der Kampagne: „Kein Kuhhandel um die Kernkraft“. Reinhard Wolff
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