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Grundlegende Fragen sexueller Identität

Auf dem 40. Londoner Film Fest wird über Zensur diskutiert, trifft Bollywood auf britische Erstlingsfilme und lassen alternde Rockstars zu Marketingzwecken die Hosen runter. Das Publikum läßt sich's nicht verdrießen  ■ Von Andreas Wegmann

Gleich zu Anfang des 40. Londoner Film Fests sorgte David Cronenbergs „Crash“ für einen Knaller. Namhafte Kritiker verreißen die J.G.-Ballard-Adaption als „krankhaft“ und „verdorben“. Die Kultusministerin Virginia Bottomley schreit nach Zensur: „Zuviel Gewalt und unakzeptables Benehmen.“ Ihrer Meinung nach bestehe die Gefahr, daß sich jugendliche Missetäter einer ganz neuen Art von „joyride“ hingeben werden. Dazu Cronenberg auf der Pressekonferenz: „In Frankreich und Deutschland wurde der Film gezeigt. Verkehrsstatistiken sind konstant geblieben.“

Für das deutsche Publikum, gewöhnt an sexuelle Libertinage, scheint die Erregung freilich überzogen. Auf der Insel jedoch hat die staatliche Zensur eine wohlgepflegte viktorianische Tradition. So ist bis heute ungewiß, ob „Crash“ vom British Board of Film Classification überhaupt freigegeben wird. Unverhoffte Unterstützung bekommt der Film neuerdings von ganz anderer Seite. Der königliche Automobil Club, das lokale Pendant zum ADAC, läßt verlauten: „Wer den Film sieht, wird vorsichtiger fahren.“

Auch das neueste Werk des bekanntesten englischen Dokumentarfilmemachers Nick Broomfield ist umstritten. „Fetishes“ ist eine höchst mokante Dokumentation, im Jargon „mocumentary“. In New Yorks feinstem S&M-Etablissement Pandora's Box lassen sich Wall-Street-Börsianer von professionellen Dominas in bizarren Rollenspielen peinigen. Der einst so progressive Fernsehsender hat den eigentlich recht harmlosen Film zwar finanziert, will ihn jetzt seinem Publikum aber doch vorenthalten. Dabei war der Kinosaal bis zum Bersten gefüllt, was Sheila Whittaker, die Direktorin des Festivals, verwunderte: „Ich hätte nicht gedacht, daß sich so viele für S&M interessieren.“

„Liebe und andere Katastrophen“, der Titel einer australischen Komödie, könnte gut als Motto über dem diesjährigen Jubiläumsfestival stehen. Vom überzogenen Hollywood-Racheakt „First Wives Club“, in dem sich sitzengelassene Hausfrauen an ihren treulosen Männern rächen, über Ulrich Seidls „Tierische Liebe“ bis zur katholisch-frommen Idylle „Spitfire Grill“ ist alles vertreten.

Außer Sensationsträchtigem wird noch ein regelrechtes Panoptikum an Weltkino geboten. Die meisten dieser Filme wird man später nur mit Mühe zu Gesicht bekommen. Zuhauf sind außergewöhnliche Geschichten aus dem Mittleren und Fernen Osten, oft über ungewöhnliche Frauen, die in traditionell androzentristischen Gesellschaften ihre Stimme erheben. So etwa der Dokumentarfilm „Hanan Ashrawi, eine Frau ihrer Zeit“, ein einfühlsames Porträt der einflußreichsten palästinensischen Wortführerin.

Auch die beiden ägyptischen Beiträge „Days of Democracy“ und „Life... my Passion“ stellen die zunehmende Politisierung der Frauen auf verschiedene Weise dar. „Day of Democracy“ widmet sich der Rolle der Frau in der ägyptischen Politik von der pharaonischen Zeit an, als Königinnen das Tal des Nil regierten, bis hin zur Einführung des Frauenwahlrechts unter Nasser. „Life... my Passion“ dagegen ist eine Komödie, in der sich drei Frauen sozialen Tabus und verlogenen gesellschaftlichen Konventionen gegenüber zu behaupten suchen.

Eine Frau und ein Transvestit stehen im Mittelpunkt eines äußerst unorthodoxen indischen Beitrags. „The Square Circle“, im Februar auf der Berlinale zu sehen, könnte wie einst „Bandit Queen“ Aufsehen erregen. Eine junge Frau wird aus ihrem Dorf entführt. Schmierige Menschenhändler wollen sie an ein Bordell verkaufen, was in Indien keine Seltenheit ist. Nachdem sie ihren Entführern entkommt, tritt sie den gefährlichen Heimweg an. Dabei trifft sie auf einen Transvestiten, der sie zu ihrem Schutz als Mann verkleidet. Es beginnt eine faszinierende Reise, auf der das merkwürdige Pärchen mit den grundlegenden Fragen der sexuellen Identität konfrontiert wird.

Einen Großteil seiner Faszination bezieht der Film aus dem Widerspruch zwischen der inhaltlichen Problematik – ein Novum für den indischen Film – und der von „Bollywood“-(Bombay + Hollywood)-Finanziers vorgegebenen Erzählweise. Dazu Drehbuchautor Temeri N. Murari: „Bollywood operiert mit einer rigiden Formel: sechs Songs und sechs Tanznummern. Ich habe die Geldgeber auf einen Tanz und vier Songs heruntergehandelt.“ Trotz allem will das International Film Festival of India nichts von „The Square Circle“ wissen. Denn es gibt immer noch drastische Szenen, wie sie nun einmal auf indischen Leinwänden nicht vorgesehen sind. Noch expliziter ist der britische Erstlingsfilm „Stella Does Tricks“. Stella, gespielt von Kelly McDonald aus „Trainspotting“, ist ein junges schottisches Mädchen, das versucht, in London ihrem Zuhälter und der Prostitution zu entkommen. Mit eindringlicher Visualisierung beschreibt „Stella Does Tricks“ die Misere der Jugend in Großbritanniens Städten, ein Thema, das auch eine Reihe anderer Filme in der britischen Sektion beschäftigt.

Erwähnt sei noch, daß alternde Rockstars mit Macht in den Film drängen. So David Bowie, verkleidet als Andy Warhol in Julian Schnabels „Basquiat“, oder Chris Rea, der das Drehbuch für „La Passione“ schrieb. Ein Verleiher meinte dazu nur: „Sie sind gut fürs Marketing. Filmstars sind oft zu leise.“ Und weiter: „Manchmal ist es gut, wenn einer die Hosen runterläßt.“

Um sich mehr als 250 Filme aus aller Welt anzusehen, strömen alljährlich mehr als 200.000 Zuschauer im Westend zusammen. Auf dem Kontinent ist das herbstliche Festival jedoch wenig bekannt. Anders als in Cannes oder in Berlin gibt es hier kaum nennenswerten Wettbewerb oder Kommerz, weder barbusige Blondinen noch Anzüge mit Aktenkoffern und Funktelefonen. Das Fest an der Themse ist publikumsorientiert. Die Besucher sind es auch, die seit zwei Jahren einen mit 10.000 Pfund dotierten Alibipreis für den beliebtesten britischen Film verleihen. Bliebe nur noch zu sehen, wer den bekommt.

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