: Der Schrecken des fließenden Übergangs
■ „Morgen fängt das Leben an – Stimmen aus Theresienstadt“: Die Schauspielerin Bente Kahan mit vertonten Gedichten der Schriftstellerin Ilse Weber in der Tribüne
Wenige Requisiten genügen ihr: zwei Koffer, einige Kleidungsstücke, Hut und Mantel. Die Bühne bleibt kahl, und doch gelingt es der norwegischen Schauspielerin und Sängerin Bente Kahan, sie mit sparsamen Gesten zu füllen. Die Zurückhaltung wirkt ergreifend, ohne pathetisch zu sein.
Es gilt ein Stück Geschichtsschreibung zu leisten, an Schicksale zu erinnern – an die Menschen im Ghetto Theresienstadt bei Prag. Zwei Jahre hat Bente Kahan gemeinsam mit Ihrer Koautorin und Regisseurin Ellen Foyn-Bruun für das Programm „Morgen fängt das Leben an – Stimmen aus Theresienstadt“ recherchiert, mit Überlebenden gesprochen und Lieder und Gedichte aus dem damaligen Vorzeige-Ghetto der Nationalsozialisten zusammengetragen.
Eine besondere Stellung kommt dabei den Gedichten der österreich-ungarischen Schriftstellerin Ilse Weber zu. Wie durch ein Wunder wurden viele ihre Texte gerettet und von Bente Kahan für dieses Programm vertont und nun – begleitet von den beiden Musikern Dariusz Swingoga und Miroslav Kuzniak – mit wandlungsfähiger, ausdrucksstarker Stimme vorgetragen. Es sind oft harmlos, naiv anmutende Reime, die nicht von ungefähr den Ton von Kinderliedern annehmen. Nur so, scheint es, konnte der Schrecken überhaupt erzählt und in Verse gefaßt werden.
Als Rahmen für diese Lieder und andere Kabarettsongs aus dem Ghetto haben Kahn und Foyn-Bruun aus den Gesprächen mit Überlebenden fünf fiktive Lebensgeschichten entwickelt. Fünf Frauen verschiedener nationaler und sozialer Herkunft, deren Schicksale die Geschichte des Lagers widerspiegeln wie den Alltag zwischen Hunger, dem ungebrochenen Willen, zu überleben, und dem stets drohenden Abtransport in Richtung Auschwitz.
Dora etwa, die Prager Schauspielerin, die auch im Lager Cocteaus „Die Geliebte Stimme“ spielt und die ihre Familie kurzfristig vor der Deportation in ein Vernichtungslager retten kann, indem sie mit einem Mitglied des Ältestenrats schläft. Auch der Sohn der Hamburger Hausfrau Maria steht auf den Deportationslisten. Ihn kann sie nur vor der Ermordung retten, indem sie an seiner Statt in den Eisenbahnwaggon steigt, in den sicheren Tod. Oder die alte Wienerin Lily, die den Mördern zuvorkommen will und sich selbst das Leben nimmt.
Geradezu grotesk und zynisch wirken dazu jene Szenen, die von der „Umgestaltung“ Theresienstadts zum „modernsten Ghetto der Welt“ erzählen. Für die Kommission des Internationalen Kreuzes und den Propagandafilm „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ wurden in Theresienstadt, Zwangsheimat für über 150.000 Deportierte, paradiesische Zustände inszeniert. Potemkinsche Dörfer, verlogene Normalität eines geordneten Lebens ohne Hunger, Tod und Not. Ein Leben, das es in der Theresienstädter Wirklichkeit nicht gab.
Eine Gesangs- und Steppeinlage geht fließend über in das monotone Rattern der Eisenbahnräder, und das eben noch strahlende Entertainergesicht Bente Kahans bekommt einen schrekkensstarren Ausdruck.
Dieses nahtlose Hinübergleiten von hoffnungsvollem Überlebenswillen und Glauben an eine „Zeit danach“ in die Realität des Massenmordes und des Elends der Verhungernden, die unter unmenschlichsten Bedingungen ihr Dasein fristen, macht das Programm so nachhaltig beeindruckend. „Morgen fängt das Leben an“ – uraufgeführt 1995 in Oslo zunächst in norwegischer Sprache – hält ein Stück jüdische wie deutsche (Kultur-)Geschichte am Leben und ist zugleich eine respektvolle Hommage an die Opfer wie die Überlebenden Axel Schock
Bis 23.11., 20 Uhr, Tribüne, Otto- Suhr-Allee 18
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