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H. sagt: „Wir sind ein Rudel“

■ Aufklärung und Befreiung: In der Begine informierte eine Betroffene über das Leben mit multiplen Persönlichkeiten

Sie sagt: „Wir können nur über uns sprechen. Jedes System ist anders.“ Die Veranstaltung mit dem Titel „Multiple Persönlichkeiten zwischen positiver und negativer Diskriminierung“ am Donnerstag in der Begine war die zweite dieser Art; im September hatte man wegen Überfüllung die Türen schließen müssen. Was hier passiert, ist in dieser Form ein Novum: eine Multiple setzt sich, unterstützt von ihrer Lebensgefährtin, vor ein Publikum und spricht über sich.

Wieviel Mut dazu gehört, ist an der gespannten Stimmung im Raum abzulesen und an der enormen Anstrengung, die die Frau, die vorn sitzt, ausstrahlt. In ihr gibt es drei Erwachsene: H. (weiblich, 35 J.), sie ist diejenige, die meistens spricht, R. (männlich, 30 J.) und einen „Erinnerungsträger“, der stumm bleibt. Und es gibt 30 Jugendliche und Kinder. „Wir sind ein Rudel“, sagt H. Sie war(en) verheiratet, ohne daß ihr Multipelsein aufgefallen wäre, sie hat/haben drei leibliche Kinder.

In dem Alltag, den H. beschreibt, dreht sich fast alles um Fürsorge, Absprache der Persönlichkeiten untereinander und um Organisation: jemand muß sich um „die Kleinen“ (Innenpersonen) kümmern. Das alles klingt wie ein riesiges Familienleben. Wie kann es gelingen, das System unter Kontrolle zu halten? „Die Kleinen“ sind während der Veranstaltung von der Außenkommunikation abgeschirmt, eine jugendliche Innenperson „paßt auf sie auf“.

H. beantwortet Fragen: Wie sich körperliche Veränderungen beim Wechsel anfühlen, wie sie eine Beziehung lebt, die ja schließlich nur eine ihrer Persönlichkeiten (H. nämlich) führt. Wie sie mit ihren „Außenkindern“ umgeht. Wie sie die für Multiple typischen „Zeitverluste“ erlebt, jene Amnesien, die auftreten, wenn andere Persönlichkeiten „oben“ sind. Und wie das Zusammenleben mit männlichen Personen im weiblichen Körper möglich ist. R. kommt zu Wort: eine andere Stimme, eine andere Gestik und Mimik. Er sagt: „Wenn hier einer Fleisch kocht, bin ich das.“ H. ist Vegetarierin.

Beide Veranstaltungen hatten nichts von einem Talkshow- Outing, sondern waren sachlich, denn es ging hier schlicht um eins: um Öffentlichkeitsarbeit. „Wir wollen, daß Betroffene zu Wort kommen, wir wollen informieren.“ „Berührungsängste“ bestehen vielfach, nicht nur bei Laien, sondern auch bei PsychotherapeutInnen. H. will gegen das „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“-Image angehen, das eine Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit von Multiplen suggeriert, und setzt die Beschreibung ihrer Lebenswirklichkeit gegen grobe Verallgemeinerungen. Es geht ihr auch ein Stück weit um Befreiung: nicht immer in der Angst leben zu müssen, für verrückt erklärt zu werden, sich nicht immer „zusammennehmen“ zu müssen.

Die politische Stoßrichtung der Veranstaltungen (weitere sind geplant) ist klar: In dem Maße, wie Multiple selbst sprechen, werden die Folgen extremsten sexuellen Mißbrauchs sichtbar. Multiple sind Überlebende. Als eine einzige Person hätten sie die Gewalterfahrung nicht überstehen können. Die Opfer sind verletzt worden und bleiben unendlich verletzbar, traumatische Erfahrungen können nicht öffentlich verhandelt werden.

Aber in welcher Form läßt sich wirksam über sexuellen Mißbrauch reden? Erscheint die Selbstdarstellung dieser so beeindruckend gut organisierten Multiplen nicht zu einfach? Die Rückfragen in der zweiten Veranstaltung waren schärfer und kamen vor allem von Betroffenen. Eine Multiple aus dem Publikum meinte: „Ich fühle mich verarscht.“ H. wird nicht öffentlich über Traumatisierungen sprechen, und vielleicht nutzt es der Sache, nicht (nur) über das zu reden, was war (und was immer wieder geschieht), sondern über das, was daraus geworden ist. Andrea Roedig

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