Das Schachbrett Pizarros

Lima bietet nur wenige Motive für romantische Urlaubsfotos, dafür das Leben einer Metropole. Ein Streifzug vom Zentrum zum Künstlerviertel Barranco  ■ Von Bettina Bremme und Ulrich Goedeking

Neben den grün umwucherten Ruinen Machu Picchus röhren Hirsche in die Alpenlandschaft, der Gekreuzigte konkurriert in Hochglanz mit überdimensionalen, blonden Strahlebabies. Der Posterstand am Jirón Cuzco, einer der Hauptgeschäftsstraßen im historischen Zentrum Limas, umwirbt die Passanten mit einem Sammelsurium aus Traumversatzstücken jeglicher Couleur. Mit stoischer Ruhe bieten die Straßenhändler im Schatten bröckelnder Fassaden Poster und Plastikgeschirr, Eisenwaren und Eßbares an. Direkt vor ihren kleinen Holzständen drängt sich der Verkehr durch die engen Straßen. Benzingestank mischt sich mit den Dünsten von Kräuteraufgüssen, Eintöpfen und Ceviche, den peruanischen marinierten Fischhappen. „Chiclets, cigarillos“ – kaum zehnjährige Kinder preisen Kaugummi und Zigaretten aus ihrem Bauchladen an.

Abgesehen von versteckten Oasen wie dem Künstlerviertel Barranco, bietet die peruanische Hauptstadt nur wenige Motive für romantische Urlaubsposter, dafür aber das Leben einer Metropole. Im historischen Zentrum beherrschen die indianischen Migranten aus den Anden das Bild, während sich das weiße, bürgerliche Lima im ehemaligen Badevorort Miraflores ein neues, wolkenkratzerbewehrtes Zentrum geschaffen hat. In einer fast schnurgeraden Linie, über 60 Häuserblocks lang, verbindet eine Verkehrsachse beide Zentren: die Avenida Arequipa und ihre Verlängerung, die Avenidas Garcilaso de la Vega und Tacna. Die Fahrt mit einem der „Combis“ genannten Kleinbusse führt von einer Welt Limas in die andere. Im historischen Zentrum, östlich der Avenida Tacna, sind renovierte koloniale Prachtbauten und Kirchen die Ausnahme. Nur wenige große Plätze sind, so wie die lachsrot getünchte Plaza San Martin, repräsentativ hergerichtet. Zu Markt- und Parkplätzen umgewandelte Abbruchgrundstücke drängen sich zwischen Bürobauten aus den 60ern und verrotteten Holzbalkonen, die an halbverfallenen zweistöckigen Häusern kleben. Enge Gänge ziehen sich von der Straße aus in die Innenhöfe der alten, einstöckigen Wohnhäuser. Einst als Residenzen für die limenische Oberschicht gebaut, sind die Zimmer heute meist einzeln an ganze Familien vermietet.

Nostalgisch erzählen ältere Limenos von den Zeiten vor vierzig, fünfzig Jahren, als das Bürgertum noch am Sonntagnachmittag zum Flanieren und Eisessen zur Plaza de Armas fuhr, mit Präsidentenpalast und Kathedrale das Herz der Stadt. Nicht selten mischt sich in die Schwärmereien Verbitterung darüber, die „Indios“ hielten das alte Lima besetzt. Die meisten von ihnen sind in den letzten Jahrzehnten aus allen Teilen Perus nach Lima gekommen. Das „Schachbrett Pizarros“, wie der Stadtkern nach der typisch kolonialspanischen Anlage durch den Eroberer genannt wird, ist zum Zentrum der Zuwanderer geworden.

Daran könnte sich bald etwas ändern. Seit einiger Zeit wird in Politik und Medien die „Rückgewinnung des historischen Zentrums“ propagiert. Es scheint, als finde die Aufbruchstimmung, die seit dem Ende von zwölf Jahren Krieg zwischen der Staatsmacht und der Guerilla „Leuchtender Pfad“ im Jahr 1992 herrscht, ihr symbolisches Objekt in der Sanierung der Altstadt. Es ist kein Zufall, daß im Dezember vergangenen Jahres mit dem Parteilosen Alberto Andrade ein Politiker zum Oberbürgermeister gewählt wurde, der dieses Vorhaben in den Mittelpunkt seines Wahlkampfes gestellt hatte.

Don Genaro Quispe, der auf den Straßen des Zentrums Mixer, Bügeleisen, Heizlüfter und Kabel verkauft, sieht diesen Plänen mit Besorgnis entgegen. „Wenn die Stadtverwaltung von der Wiedergewinnung des Zentrums spricht, so muß sie sich fragen, von wem etwas wiedergewonnen werden soll, und wer dabei der Verlierer sein wird“, so der etwa 50jährige Don Genaro. Auch die heutigen Bewohner haben ein Interesse daran, das Zentrum sauberer und sicherer zu gestalten. Zudem sind nicht wenige Straßenhändler in ihrem Geschäft erfolgreich und können es sich mittlerweile leisten, an Lebensqualität im Viertel zu denken. Zwar hat die berüchtigte Strukturanpassung nach Maßgabe des Internationalen Währungsfonds auch für Don Genaro bewirkt, daß das Geschäft nur mäßig floriert und die Händler zahlreicher, die Kunden dagegen knausriger werden. Aber die wiedergewonnene Stabilität hat Erfolgsgeschichten möglich gemacht. So gibt sich Don Genaro diplomatisch: „Wir sind zur Zusammenarbeit bereit, solange Andrade nicht versucht, seine Politik auf unsere Kosten durchzusetzen.“

„Patrimonio Cultural de la Humanidad“, „Kulturerbe der Menschheit“, steht stolz auf der Broschüre der für die Sanierung des Zentrums zuständigen Behörde. 1991 wurde der Altstadt Limas von der Unesco dieser Titel verliehen. Unesco-Generalsekretär Federico Mayor Zaragoza versprach bei seinem Besuch im März dieses Jahres finanzielle Unterstützung in einer Größenordnung zwischen fünf und zwölf Millionen Dollar. „Die Wiedergewinnung Limas ist Teil eines umfassenden Planes. Flicken reichen nicht, denn es muß eine globale Vision des historischen und künstlerischen Ensembles, das Lima ausmacht, geben“, so Mayor Zaragoza. Der Stimmungswandel in Lima spricht dafür, daß sich das historische Zentrum unter Andrade nach vielen vergeblichen Versuchen seiner Vorgänger verändern wird. Mit oder gegen die Bewohner, wer weiß?

Auf dem Weg aus dem historischen Zentrum entlang der Avenida Arequipa wechseln sich schlichte Zementgebäude ab mit klassizistischen Villen, englische Landhäuser und Schweizer Chalets, die wie potemkinsche Kulissen den Straßenrand säumen. Sie erzählen die Träume eines Bürgertums, das sich kulturell immer an nördlichen Vorbildern orientierte.

„Toda Arequipa, Miraflores, Barranco, Chorrillos, Huaylas.“ Junge Männer hängen in den halboffenen Türen ihrer „Combis“, dirigieren die Fahrer und rufen, während sie nebenbei kassieren, unaufhörlich die Route aus. Manchmal brachial, meist traumwandlerisch routiniert, schlängeln die Busfahrer die Fahrzeuge durch den dichten Verkehr auf der Arequipa. Da es in Lima keine U-Bahn oder Straßenbahn gibt, fährt, wer es sich leisten kann, im eigenen Auto oder im Taxi. Alle anderen sind darauf angewiesen, sich tagtäglich in die „Combis“ zu quetschen.

In Sichtweite vom südlichen Ende der Arequipa, direkt an der Plaza von Miraflores, bahnen sich betagte Kellner den Weg zwischen beschlipsten Handyhaltern und grauhaarigen Stammgästen, zwischen Künstlern und Kinogästen, um würdevoll den besten Kaffee der Stadt zu servieren. Während eine Parkwächterin auf die Autos aufpaßt, räkeln deren Besitzer sich in träger Entspanntheit oder diskutieren die neuesten Schlagzeilen der internationalen Zeitungen, die von Handverkäufern vorbeigetragen werden. Was das Kranzler den Berlinern, ist das Haiti den Limenos. Hier sieht man und wird gesehen, das nötige Kleingeld vorausgesetzt.

In Miraflores ist die Aufbaustimmung in ihrer bürgerlichen Variante mit den Händen zu greifen. Angesichts des Treibens auf dem „Ovalo“ genannten zentralen Platz ist kaum vorstellbar, daß hier noch 1992 auf dem Höhepunkt des internen Krieges eine Autobombe des Leuchtenden Pfades (Sendero Luminosa) explodierte und 30 Menschen tötete. Jetzt drehen die Söhne der Reichen mit Papas Luxusjeep ihre Runden vor Bürohochhäusern und Boutiquen. So sehr ist Miraflores zum Geschäftszentrum geworden, daß nur noch wenige Seitenstraßen mit flachen, bunten Häusern an den einstigen Charme des Badevorortes erinnern.

Wie eine Oase der Ruhe wirkt dagegen tagsüber das direkt an Miraflores grenzende Barranco: Verschachtelte Gassen und alte Villen, die sich an die Schlucht schmiegen, der das Viertel seinen Namen verdankt. Um die Jahrhundertwende ein nobler Badeort, avancierte Barranco später zum Tummelplatz von Limas Künstlerszene. War es früher die Bohème, die sich in den traditionsreichen Kneipen und Musiklokalen traf, ist Barranco mittlerweile „in“: Teenies aus Miraflores drängeln sich in neueröffneten Discos, und wer sich das Bier dort nicht leisten kann, trinkt es eben auf der Straße. Auf der hölzernen „Seufzerbrücke“, die sich über die Schlucht schwingt, hocken Liebespaare wie die Hühner auf der Stange.

Noch vor vier Jahren, auf dem Höhepunkt der wirtschaftlichen und politischen Krise, wirkten die Lokale während der Woche wie ausgestorben. Der Mangel an Geld und die Angst vor Bomben des „Leuchtenden Pfades“ ließen Kultur und Unterhaltung als Luxus erscheinen. „Die Leute haben ein wahnsinniges Nachholbedürfnis, den Druck der vergangenen Jahre abzustreifen und sich zu amüsieren“, so die Psychologin Monica Rodriguez. „Doch den meisten geht es wirtschaftlich nicht besser als vor ein paar Jahren.“ Manchen Bewohnern Barrancos geht der Trubel schon zu weit. „Eine Zeitlang war es hier so schlimm, daß ich abends keine Lust mehr hatte, vor die Tür zu gehen. Überall hingen Betrunkene herum.“ Graciela Hauyhua Collanqui, eine ehemalige Hausangestellte, arbeitet in der Buchhandlung „El Portal de Barranco“. Das „Portal“, seit Jahren ein Treffpunkt für Künstler und Intellektuelle, ist mittlerweile von zwei Lokalen mit Spielautomaten eingerahmt. „Mir ist vor zwei Jahren einiges an Geld geboten worden, wenn ich den Laden aufgebe und einem Casino Platz mache“, so Maria Barea, die Besitzerin des „Portal“. Die Filmemacherin entschloß sich zur Flucht nach vorn und richtete ein Lokal ein, in dem Kulturveranstaltungen stattfinden: Mal toben sich Kids bei peruanischem Rock aus, dann tragen betagte Sängerinnen kreolische Evergreens aus den Vierzigern vor.

Nur ein paar Schritte entfernt von der Plaza Barrancos bietet der „Mirador“, der beliebteste Aussichtspunkt entlang der Steilküste, einen Blick auf die „Costa Verde“, die „Grüne Küste“. Vereinzelte Hochhäuser ragen aus der diffusen Silhouette empor, markieren den oberen Rand der bräunlichen Steilhänge. Am Fuß von sandigen Felsen und Geröllhalden bieten, eingezwängt zwischen Brandung und Schnellstraße, schmale Sandstreifen Sonnenhungrigen Platz, trotzen Badende dem verdreckten Wasser der Bucht von Lima.

„Früher war die Küste grüner“, erzählt der fünfzigjährige Rodrigo, der als Kind oft das Wochenende am Strand verbrachte. „Auf halber Höhe traten kleine Wasserläufe aus den Felsen und sorgten dafür, daß Pflanzen überleben konnten.“ Dann begann mit dem rasant ansteigenden Wasserverbrauch des Stadtmoloch der Grundwasserspiegel zu fallen. Die Vegetation vertrocknete und machte wilden Müllkippen Platz. Seit einigen Jahren ranken sich viele dünne Schläuche die Klippen hinunter, um robuste Kletterpflanzen tröpfchenweise zu bewässern, eine mit viel Beifall aufgenommene Maßnahme der Distriktverwaltung. Reine Kosmetik? In den meisten Häusern der Stadt strömt, wenn überhaupt, nur wenige Stunden am Tag Trinkwasser zweifelhafter Qualität aus den Leitungen. Daran ändern auch die kleinen grünen Flecken an der „Costa Verde“ nichts. Aber trotzdem bleiben sie als Symbol für den Aufbruch einer Stadt, die in den langen Jahren der Krise von vielen ihrer Bewohner schon fast aufgegeben worden war. Ob Don Genaro Quispe im alten Zentrum oder Maria Barea in Barranco: In Lima gedeihen wieder, wenn auch noch sehr vorsichtig, Pläne für die Zukunft.