Wege zum gemeinen Unglück

Viel Kleinarbeitung großer Gegenstände auf der Herbsttagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung. Für die Goldhagen-Debatte lautet die Diagnose: Tribale Abwehr im Dienste des Teutonenstamms  ■ Von Clemens Pornschlegel

In Zeiten, in denen die Kassen kontrollsüchtig und Analysen entsprechend suspekt sind, entschloß sich die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung (DPV), den Stier bei den Hörnern zu packen. Das Thema ihrer großen Herbsttagung, zu dem am Wochenende etwa 600 in- und ausländische AnalytikerInnen ins Wiesbadener Pallas-Hotel kamen, lautete: „Ziele des psychoanalytischen Prozesses“. Es ging, neben der obligaten Vereinsarbeit, um große Fragen: Was wollen wir? Was können wir? Was machen wir? Sie wurden dank der luziden anglo- französischen Gastvorträge von Jean Laplanche, Elizabeth Bott Spillius und Christopher Bollas auch kleingearbeitet, das heißt auf ein Format gebracht, das von messianisch kulturrevolutionären Selbstüberschätzungen ebenso weit entfernt war wie von vorauseilenden Selbstaufgaben im Namen dessen, was Lacan einmal den „service des biens“ nannte.

Darunter fallen auch alle jene therapeutischen Dienstleistungen, die dem sogenannten „gesellschaftlich Relevanten“, bittschön, zuarbeiten sollen – auf Kosten des Subjekts, seiner Wünsche und Konflikte. Dessen Fürsprecher aber ist die Analyse, und zwar gegen alle von außen herangetragenen Ansprüche. Entweder die Analyse besteht auf ihrer „epistemologischen Besonderheit“ (Bollas) und ist auf das von Freud entdeckte Unding namens „Unbewußtes“ gleichschwebend und „ziellos“ aufmerksam, oder sie läßt sich integrieren in die manageriale Effizienzhuberei und verliert ihren Gegenstand – und sich selbst. Pillen und Pülverchen aus dem Haus IG Farben kämen dann allemal billiger. Lieber den Hirnstamm chemisch dämpfen als die schöne Seele „zerfasern“, sagt das Medizinmanagement (wie anno dazumal). Lieber die Kultur definitiv vom heterosexuellen Zwangsimperativ (und Freuds „Sexismus“) befreien als dem Mord- und Inzestverbot ins blöde Auge schauen, sagen die neuen Kulturrevolutionäre. Management und postmoderne Avantgarde sind sich wunderbar einig, wenn's darum geht, die Desillusionierung, mit denen die Analyse Menschheitsverbesserungsträume schlägt, zu denunzieren. Wer hört schon gern, daß die großen Geschäfte, die er in die Welt setzt, mit der Position des Nachttöpfchens zu tun haben?

Nein, die kleinen Wahrheiten, die zwischen Couch und Sessel auftauchen, riechen nicht gut. Gemessen an den Maßstäben der „Effizienz“ sind sie auch wenig sinnvoll. Es ist ein seltsamer Prozeß, der zwischen Analysand und Analytiker läuft, bekanntlich besteht er bloß aus Wörtern. Und wenn's glückt, sind sie ohne jeden Sinn. Sie wiederholen damit, wie Jean Laplanche in seinem großen Vortrag sagte, eine Situation, die für das Subjekt konstitutiv ist. Sie sind nämlich genauso sinnlos wie die sexuell kompromittierten Botschaften Erwachsener an Kinder: ein einziges Rätsel. Das Kind verhält sich ihnen gegenüber zunächst passiv und versucht, sie zu verstehen und in Sinn zu übersetzen.

Das „Ich“ ist das, was in eine zusammenhängende Geschichte integriert werden kann, das „Es“, was der Übersetzung gegenüber widerspenstig bleibt. „Ich“ bin folglich die Instanz, die gegen die Alterität, gegen den „verführenden“ Anderen ausgebildet wird, ohne daß ich je die Chance gehabt hätte, alle Elemente seiner Botschaft vollständig zu „verstehen“. Schon gar nicht seine kleinen perversen. Gemacht ist das „Es“ aus unverbundenen, zeitlosen und im Verhältnis zueinander widerspruchslosen Vorstellungen. Das anfängliche Kreisen des Subjekts um die rätselhafte Andersheit, in und mit der es sich bildet, ist dessen – so Laplanches schöne Formel – grundlegender „Kopernikanismus“. Das Ich und sein Versuch, die Botschaften anderer in Sinn zu „binden“, ist dagegen „ptolemäisch“.

Laplanche definierte den psychoanalytischen Prozeß deswegen als eine Neubelebung des „kopernikanischen Konflikts“. Die Analyse besteht nicht darin, das Sinnlose, das dem Ich in lauter Symptomen zusetzt, flott wegzudeuteln („aah, Ödipus...“) – deswegen ist sie „anti-hermeneutisch“ –, sie besteht vielmehr darin, dem Ich die Geschichte, die es sich tröstend erzählt, nach und nach zu „rauben“ – um das Subjekt zu „öffnen“, um es auf die Suche der eigenen Andersheit zu schicken. Sicher, die kopernikanische Öffnung des Subjekts „heilt“ nicht im Sinne einer Reparatur des autonomen „Ich“, aber sie erlaubt, Sinnelemente neu zu konstellieren. Aus psychischem Elend gemeines Unglück machen, war Freuds Formel. Sie ist vernünftig enttäuschend.

Von einem Großteil der Deutschen kann man das nicht behaupten. Wie unerwachsen die gängigen Goldhagen-Verrisse sind, zeigten die „psychoanalytischen Reflexionen“, die Christoph Biermann darüber anstellte. Mit Ulrich Herberts Begriff des „Vermeidungsdiskurses“ beschrieb er die Strategien, mit denen versucht wird, Goldhagens anthropologische Studie des Stammes der Teutonen ins Abseits zu stellen. Anstelle Goldhagens in der Tat affektiv aufgeladene Botschaften als Rätsel zuzulassen, setzt im Dienste des deutschen Ich umgehend die tribale Abwehr ein. Daß der „eliminatorische Antisemitismus“, anstatt befragt zu werden, krampfhaft geleugnet und wegdifferenziert wird, unter Einsatz aller historiographisch zur Verfügung stehenden Mittel, war einer der eher erschreckenden Schlüssel, die Biermanns vorsichtigen Überlegungen nahelegten. Zugleich legt er den Historikern nahe, ihr eigenes interpretatives Tun mit Hilfe psychoanalytischer Erkenntnis zu überdenken.

Daß freilich auch einige Analytiker Goldhagens den wohltuend schmerzhaften Begriff „des“ Deutschen lieber in Frage stellten, anstatt umgekehrt sich um die (deliranten) Mechanismen zwanghaft wirksamer Identifikationen zu kümmern, war schade. „Der Rückfall in nahezu vorgeschichtliche Barbarei ohne Anlehnung an irgendeine fortschrittliche Idee“ (so Freuds Charakteristik des Nazismus) ist offenbar nicht einfach zu denken. Also sprach Hölderlin: „Wir lernen nichts schwerer als das Nationelle frei gebrauchen.“