: Darf eine Politikerin das?
Die grüne Fraktionssprecherin Kerstin Müller hat ihre Haltung zum Bosnien-Einsatz geändert: ein Alptraum für Parteistrategen, eine Chance für Zwischentöne ■ Von Bettina Gaus
Darf eine Politikerin das? Ihre Position in einer Frage wechseln, die sie in ihrer Funktion auch stellvertretend für einen großen Teil ihrer Partei einnimmt? Will da noch jemand die Gründe wissen? Oder ist das einzig Spannende, wie sich der Meinungswandel zur Schaffung parteiinterner Mehrheiten nutzen läßt?
Kerstin Müller, Fraktionssprecherin der Grünen im Bundestag, hat im Zusammenhang mit dem Thema Bosnien einen weiten Weg zurückgelegt. Noch vor einem Jahr war sie strikte Gegnerin jedes ausländischen Militäreinsatzes in der Region. Jetzt hält sie eine militärische Absicherung des Friedensprozesses für notwendig.
„Na ja, die ist doch eingeknickt, als sie unten war, und auf die Linie von Joschka Fischer gegangen, und nach der Rückkehr hat sie der Jürgen Trittin auf Kurs gebracht, und dann ist sie wieder eingeknickt“, faßt ein grüner Landtagsabgeordneter die Entwicklung aus seiner Sicht zusammen. Politische Funktionsträger ändern nicht ihre Meinung. Sie „knicken ein“. Wenn's um Frauen geht, dann werden sie von den männlichen Kollegen auf „Linie“ oder „Kurs“ gebracht.
Kerstin Müller sagt, sie schlage sich seit Monaten mit ihrer Haltung zur Stationierung ausländischer Militärs in Bosnien herum. „Mich quält die Frage auch immer noch.“ Im März hat sie zum ersten Mal selbst die ehemalige Bürgerkriegsregion bereist. „Seither hat es in mir gearbeitet“, erzählt sie. Gesprochen hat sie darüber nur mit einigen wenigen Parteifreunden. Öffentlich bekannt wurden die Zweifel der Fraktionssprecherin an ihrer eigenen Position erst nach ihrer zweiten Reise nach Bosnien, die sie im Oktober gemeinsam mit Kollegen aus Fraktion und Bundesvorstand unternommen hat.
Kerstin Müller wird es nicht schwergemacht, zu einem Thema lange zu schweigen. Sie verdankt ihre steile Karriere dem internen Proporz. Die Bündnisgrünen haben die Besetzung von Posten nach dem Quotenprinzip zur heiligen Kuh erhoben. Frau oder Mann, Realo oder Linke – bei Wahlen sind diese Kriterien allemal wichtiger als Fachkompetenz. Joschka Fischer ist ein Mann und Realo. Gesucht wurde 1994 nach den Bundestagswahlen folgerichtig als Fraktionssprecherin eine Frau, die zum linken Parteiflügel gehört.
Als Kerstin Müller in dieses Amt gewählt wurde, lag es gerade drei Tage zurück, daß die damals Dreißigjährige das erste Mal in ihrem Leben ein Abgeordnetenmandat errungen hatte. Politisch engagiert hatte sich die Juristin bis dahin vor allem in der Frauenbewegung und in Fragen des Asyl- und Ausländerrechts. Kein allzu weiter Horizont.
Für Joschka Fischer muß sie die Traumkandidatin gewesen sein. Zur Sorge, daß die Anfängerin im Parlament ihm die Rolle des Platzhirsches in der Fraktion streitig machen würde, bestand kein Anlaß. Auch die Medien interessierten sich im Zusammenhang mit Kerstin Müller lange vor allem für die Beantwortung von zwei Fragen: ob Kollege Joschka Fischer ihr noch genug Platz für eigenes Wirken läßt („ja“) und ob sich trotz politischer Meinungsverschiedenheiten ein gutes persönliches Verhältnis zwischen den beiden Fraktionssprechern entwickeln kann (ja“). Der Spiegel hat sie in einem der wenigen größeren Porträts, die je über sie erschienen sind, „die Frau neben Joschka Fischer“ und eine „biedere Kölnerin“ genannt.
Solch weitverbreiteter Mangel an Interesse und derartige Etikettierungen mögen schmerzen. In ihrem Schatten aber werden stille politische Reifungsprozesse möglich.
Nach ihren ersten Gesprächen in Bosnien war Kerstin Müller zunächst einmal vor allem verunsichert: „Es ist eben doch etwas anderes, wenn man mit Leuten selbst redet, als wenn man sich nur aus der Ferne informiert.“ Die für sie entscheidende Begegnung fand dann im Oktober in Banja Luca statt, mit Bischof Franjo Komarica. „Ein Christ, wie er sein soll, den man nicht oft findet“, charakterisiert ihn Kerstin Müller. „Er hat uns gefragt: ,Warum habt ihr uns allein gelassen? Gelten Werte wie Humanismus noch etwas in Europa, wenn ihr uns mit den Faschisten allein laßt?‘ Ich hatte keine Antwort.“ Aber ein schlechtes Gewissen.
Die Position, die Kerstin Müller heute einnimmt, ist differenziert. Sie hat gemeinsam mit Fraktionskollegen eine Beschlußvorlage für einen Bundestagsantrag ausgearbeitet, der „übergangsweise die Beteiligung der Bundeswehr an einem IFOR-Nachfolgemandat“, also eine weitere Nato-Präsenz in Bosnien, vorsieht. Spiel, Satz und Sieg für die Realos?
Kaum. Die Vorlage der Bundesregierung soll, so will es Kerstin Müller, von den Grünen abgelehnt werden. Darauf mögen sich viele in der Fraktion nicht festlegen lassen: „Wie ich bei der Regierungsvorlage stimmen werde, das kann ich überhaupt nicht sagen. Die liegt noch nicht vor. Für mich ist die Frage offen“, erklärt Waltraud Schoppe. Sie gehört zu denen, die im letzten Jahr dem Einsatz der Bundeswehr in Bosnien zugestimmt hatten. Einen gemeinsamen Antrag der Fraktion hält allerdings auch Waltraud Schoppe für wünschenswert. Derzeit wird in den Büros mehrerer Grüner, darunter auch in ihrem, daran gebastelt. Die Beschlußvorlage, an der Kerstin Müller mitgearbeitet hat, sei ja schon mehrfach diskutiert und auch geändert worden. „Ich will erst einmal genau wissen, welchen Antrag die Fraktion vorlegt.“
„Die Realos sind mit dem Antrag in die Defensive gekommen“, glaubt Kerstin Müller. „Bei denen bewegt sich was.“ Ihre Beschlußvorlage sieht vor, die Ifor-Truppen „binnen weniger Monate“ durch UNO-Blauhelme abzulösen. „Dagegen läßt sich schwer etwas sagen, es sei denn, man setzt von vornherein nicht mehr auf die UNO, sondern auf die Nato. Das tun die Realos aber öffentlich nicht“, sagt die Fraktionssprecherin.
Kerstin Müller weiß von ihren Gesprächen in Bosnien allerdings, daß die UNO dort jeden Kredit verspielt hat. Ihre Rückkehr wird nicht gewünscht.
„Ich kann die Leute vor Ort verstehen“, sagt die Politikerin dazu. „Aber ich kann auch meine eigenen Erfahrungen nicht ausblenden.“ Die Bundesregierung und die politische Führung anderer Nato-Staaten hätten dafür gesorgt, daß die UNO-Truppen in Bosnien handlungsunfähig gewesen seien. „Als dann der Waffenstillstand da war, sind die Nato-Truppen reingegangen – auf der Basis des kleinsten Risikos.“ Wenn der Auftrag zur Friedenssicherung in Bosnien nicht so bald wie möglich an Blauhelme zurückgegeben werde, „dann wird die UNO über Jahre hinweg desavouiert“.
In Deutschland geben ausgerechnet diejenigen, die der Forderung nach einem Blauhelm-Einsatz in Bosnien widersprechen, Kerstin Müller indirekt recht. Sie argumentieren, die UNO sei zu einer derartig schwierigen Militäroperation nicht fähig – und bestätigen damit, in welch hohem Maße das Ansehen der Vereinten Nationen bereits beschädigt ist. Vielleicht aus gutem Grund: Auch Kerstin Müller fällt zu der Frage, wie die Handlungsfähigkeit der UNO konkret verbessert werden könne, nicht mehr ein als das Schlagwort von einer „notwendigen demokratischen Strukturreform“ der Organisation.
Aber interessieren derartige Feinheiten die Mehrheitsbeschaffer der verschiedenen Flügel in der Partei überhaupt? Jürgen Trittin, Statthalter der Parteilinken im Bundesvorstand, betont: „Der Antrag ist in relativ enger Abstimmung mit mir entstanden.“ Er wünscht also eine weitere Stationierung der Nato und auch der Bundeswehr in der Krisenregion? Das dürfte seine Anhänger überraschen. Aber darum geht es dem Vorstandssprecher gar nicht: „Zentral ist die Haltung, die die Fraktion zur Bundesregierung einnimmt. Ist man in der Opposition, oder macht man den Schulterschluß mit Rühe? Das ist die zentrale Frage.“
Also doch Spiel, Satz und Sieg für die Parteilinke? Kerstin Müller brav wieder in das Lager eingebunden, in das sie gehört? Für diese Konstruktion bedarf es einiger Verrenkungen.
Der „Babelsberger Kreis“ der Linken, zu dem auch Kerstin Müller gehört, hat so seine Probleme mit der von ihr mitverfaßten Beschlußvorlage für die Bundestagsfraktion. „Inhaltlich gibt es da unterschiedliche Einschätzungen“, gibt der Europaabgeordnete Frieder Otto Wolf zu.
Der Ausweg, auf den die Mitglieder des linken Zirkels verfallen sind, offenbart, wie hilflos die Flügel der Grünen reagieren, wenn jemand nicht mehr in die Schablonen paßt: Der Babelsbeger Kreis will auf dem Parteitag am kommenden Wochenende einen Antrag einbringen, in dem ebenfalls gefordert werden soll, das militärische Mandat für Bosnien von der Nato an UNO-Blauhelme zu übergeben. Daß das nicht bis zum Ablauf des Ifor-Mandats zu schaffen ist, wissen auch die Parteilinken. Zu dem, was in der Übergangszeit geschehen soll, wollen sie deshalb einfach gar nichts sagen – um niemandem weh zu tun. Auch Radikalpazifisten werden gebraucht.
Der Positionswechsel von Kerstin Müller wirft ein Schlaglicht auf ein besonderes Problem der Grünen. Bei Wahlen sind sie immer dann besonders erfolgreich, wenn ihnen die öffentliche Meinung bescheinigt, in einer zentralen politischen Frage „erwachsen geworden“ zu sein, „Verantwortung übernehmen“ zu wollen und „Regierungsfähigkeit“ zu zeigen. Intern aber droht der Partei dann jedesmal die Zerreißprobe.
„Das gibt's ja alles, bis hin zum kleinsten Kreisverband, daß jemand mir erzählt, er mußte dort sein Vorstandsamt niederlegen, weil er vor einem Jahr für den Ifor- Einsatz war“, berichtet Kerstin Müller. Die Fraktionssprecherin bemüht sich um engen Kontakt mit der Basis. „In sitzungsfreien Wochen versuche ich durchschnittlich zweimal pro Woche zu Kreisverbänden zu fahren.“
Seit Beginn ihrer Karriere als Profipolitikerin sieht die Tochter eines Ingenieurs und einer Masseurin eine ihrer wichtigsten Aufgaben darin, verschiedene Strömungen innerhalb der Partei miteinander zu versöhnen. Es ist eine besondere Ironie, daß sich ausgerechnet Kerstin Müller jetzt zwischen alle Stühle gesetzt hat. So recht glücklich ist über ihren Meinungsumschwung eigentlich niemand.
Auf dem bevorstehenden Parteitag in Suhl hätte ohne sie das Thema Bosnien vermutlich eine untergeordnete Rolle gespielt. Jetzt müssen die Realos der Bundestagsfraktion fürchten, daß ihnen die Partei ein weiteres Mal die Zustimmung zum Regierungsantrag ausdrücklich verbieten will. Die Linken stehen vor dem Problem, daß derzeit wirklich niemand von den Parteigrößen ihres Flügels öffentlich den Abzug aller internationalen Truppen aus Bosnien fordern will – deren Verbleib aber auch nicht. So bleibt ihnen nur die Wahl zwischen Pest und Cholera, wenn's in Suhl zum Schwur kommt.
Kerstin Müller wünscht sich von ihrer Partei eine ruhige, intensive Diskussion: „Das soll nicht zu eilig entwickelt werden. Das muß ein ganz langsamer Prozeß sein.“ Der Prozeß ist auch bei ihr selbst noch nicht abgeschlossen. Einwänden begegnet sie zögernd und nachdenklich. Im Gespräch hört sie auch zu. Gelegentlich korrigiert sie sich selbst. Für Parteistrategen jedweder Couleur ein Alptraum.
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