■ Wills Weihnachtsgeschichte für Kinder: NathaliesWeihnacht
Letzten Herbst ging es mir richtig schlecht. Den ganzen langen Herbst hindurch und ein kleines Stück vom Winter. Oft konnte ich nicht einschlafen und manchmal hatte ich böse Träume. Meine Eltern wußten nicht, was mit mir los war, und ich mußte zum Doktor. Der hat gesagt, daß ich viel an die frische Luft soll und Vitamine brauche. Aber das hat nichts geholfen. Außerdem war es mir an der frischen Luft zu kalt und Obst mag ich nicht.
In der Schule wurde ich immer schlechter, und einmal haben mich meine Eltern eine ganze Woche lang zu Hause gelassen, damit ich mich wieder erhole. Aber das hat nichts geändert. Meine Eltern haben sich oft gestritten, wegen mir und wegen sich selber. Sie haben sich nicht mehr gern gehabt. Sie haben sich auch manchmal angeschrien, meistens nachts, wenn sie dachten, ich würde sie nicht hören. Aber ich hab sie gehört. Und was ich hörte, war nicht schön.
Aber zu Weihnachten wurde alles anders! Ich heiße Nathalie. Und Nathalie bedeutet: „zu Weihnachten geboren“. Ich will erzählen, wie das kam:
Es war November, ein paar Wochen vor Weihnachten, und da war es besonders schlimm. Es hat die ganze Zeit geregnet und ich war viel allein, weil meine einzige Freundin, Sophie, nicht mehr da war. Sie war mit ihrer Familie nach Finnland gezogen. Sie hat mir zuerst sehr gefehlt und ich hab ihr nach Finnland geschrieben, aber dann hab ich nicht mehr oft an sie gedacht, um nicht so traurig zu sein.
Meine Eltern hatten schlechte Laune. Immer hatten sie irgendwas zu tun, nie hatten sie Zeit für mich. Einmal rief meine Mutter: „Nathalie, Nath-alie, was ist bloß los mit dir?“ Aber als ich ihr dann gerade was erzählen wollte, war sie schon wieder in der Küche und hat gerufen: „Sind deine Hausaufgaben fertig?“ Meine Hausaufgaben! Das ist alles, woran sie denkt! Ich ging in mein Zimmer und sah aus dem Fenster. Ich wußte ja auch nicht, was los war! Früher hatte ich viel gelacht, weil das Leben Spaß machte – und wenn meine Eltern sahen, daß es mir gut ging, waren sie froh. Aber jetzt war alles anders.
Eines Morgens, in der Schule, sollte jeder erzählen, was er sich zu Weihnachten wünschte. Allen fiel etwas ein, Mountain Bikes, Video-Cassetten, Puppen, Computer oder Fußbälle oder Geld oder was weiß ich. Ja, allen fiel was ein – nur mir nicht. Ich wußte einfach nicht, was ich mir wünschte. „Und du, Nathalie“, fragte Frau Spitz, unsere Lehrerin, „was wünschst du dir zu Weihnachten?“. Ich hab mit den Achseln gezuckt und auf den Boden gesehen, weil ich mich schämte.
Dann kam der erste Advent, und jetzt wollten meine Eltern es wissen: „Und, Nathalie“, fragte mein Vater, „was wünschst du dir?“. „Weiß nicht“, hab ich gesagt. „Aber Schatz“, rief meine Mutter, „du wirst dir doch was wünschen!“. „Ja“, hat Papa gelacht, „du hast freie Auswahl!“ Klar, ich mag Inline Skates und Mountain Bikes und ich mag auch Bücher und Videos und CD-Player und all das. Aber nicht an diesem ersten Advent! Und an den Tagen, die dann kamen, auch nicht. Ich war so traurig, daß ich mir nicht vorstellen konnte, mit Inline Skates durch die Gegend zu rasen oder im Sessel zu sitzen und Videos zu gucken. Ich wollte nur, daß mich alle in Ruhe lassen. Fast jeden Tag fragten meine Eltern, was ich zu Weihnachten wollte, aber ich sagte immer wieder: „Weiß nicht“ und sah auf den Boden. Meinen Eltern fiel auch nichts ein. Am liebsten wäre es mir gewesen, sie hätten eine Idee gehabt und hätten mich überrascht und ich hätte mich freuen können über mein Geschenk. Aber sie saßen nur da und sagten immer wieder: „Aber Nath-alie, du mußt dir doch einfach was wünschen!“ So ging das weiter und ich wurde davon ziemlich müde.
Bis ich eines Morgens auf dem Schulweg ein Buch fand, auf der Straße! Das war am 17. Dezember. Das weiß ich noch so genau, weil an diesem Tag Sophie Geburtstag hat und ich schon beim Aufwachen an sie dachte und daß sie jetzt zehn Jahre alt war.
Also, das Buch lag auf der Straße, in einer Pfütze. Es war ein Kinderbuch. Irgend jemand hatte es bestimmt verloren, und da lag es jetzt, naß und schmutzig. Ich nahm es mit nach Hause und las es sofort. Es hieß „Alles“ und handelte von einem weißen Fuchs, der eines Nachts den Vollmond traf. Der Fuchs stand mitten in einer Schneewüste und unterhielt sich mit dem Mond. Na ja, eigentlich stellte der kleine Polarfuchs dem Mond alle möglichen Fragen und der Mond hatte für alle Fragen Zeit und lachte den kleinen Fuchs niemals aus...
Die Fortsetzung folgt am nächsten Samstag
was essen wurden und ich wäre nicht mehr traurig oder müde und ich hätte auch wieder Appetit. Aber je länger ich mir das vorstellte, umso mehr kam es mir vor wie im Märchen. Ich dachte, das ist wirklich ein komischer Wunsch! Das machen die nie, dachte ich, die setzen sich doch nicht mit mir hin und hören mir zu! Das machen die nie, und schon gar nicht zu Weihnachten!
Von meinem Bett aus kann ich aus dem Fenster sehen. Und als ich es jetzt tat, an diesem Nachmittag, sah ich, daß es angefangen hatte zu schneien. In dicken Flocken kam der Schnee herab, und ich dachte plötzlich wieder an Sophie. Sophie war sehr glücklich mit ihren Eltern. Sie hat sehr oft von ihnen erzählt und ich merkte, wie toll sie sie fand. Jetzt war Sophie in Finnland... In Finnland schneit es viel... und ich hoffte, ich würde bald einen Brief bekommen von Sophie...
Noch eine Woche bis Weihnachten! Jetzt wußte ich, was ich mir wünschte, aber ich wußte nicht, wie ich es meinen Eltern sagen sollte. Vielleicht würden sie mich auslache? Oder mich wieder zum Doktor schicken?
Am nächsten Tag, beim Früstück, fragten mich meine Eltern mal wieder, was ich zu Weihnachten wollte. Erst wollte ich es ihnen sagen, aber dann konnte ich es nicht. Deshalb zuckte ich bloß mit den Achseln und flüsterte: „Weiß auch nicht“, und meine Eltern sahen sich ratlos an.
„Sag doch dem Kind, daß es sich endlich was wünschen soll!“ sagte meine Mutter zu meinem Vater und fuchtelte aufgeregt mit den Armen herum.
„Wieso ich denn?“ rief mein Vater. „Machs doch selber!“ „Na hör mal!“ rief meine Mutter, „du bist doch schließlich ihr Vater!“ „Na und?“ brummte mein Vater.
Und sie fingen wieder an, sich zu streiten. Sie vergaßen mich völlig und ich aß mein Brötchen auf und ging zur Schule.
Es schneite immer mehr. Alles wurde weiß, ganz weiß, die Dächer, die Bäume, die Autos. Wie in Finnland, dachte ich, wie bei Sophie! Weihnachten kam immer näher. Plötzlich waren es nur noch drei Tage, wir hatten schon Ferien, und da sagte mein Vater beim Abendessen: „Also, Nathalie, wenn du dir nichts wünschst, dann suchen wir eben was aus. Wenn dir das dann aber nicht gefällt, ist das deine eigene Schuld!“ Blödes Weihnachten, dachte ich. Nichts als Ärger! Ich ging ins Bett und dann träumte ich vom diesem Polarfuchs und seinem Freund, dem Vollmond. Am nächsten Morgen aber kam ein Brief, ein Brief aus Finnland, ein Brief von Sophie! Endlich ein Brief von Sophie! Liebe Nathalie, schrieb sie, Finnland ist ganz schön kalt! Hier schneit es andauernd und die Leute reden so komisch! Meine neue Schule ist manchmal lustig und manchmal gruselig. Eine neue Freundin hab ich noch nicht. Wie geht es dir? Wir müssen uns unbedingt oft schreiben! Ach ja, vielen Dank für deinen Brief! Was wünschst du dir zu Weihnachten? Ich hab mir von meiner Mama und meinem Papa gewünscht, daß wir einen ganzen Tag lang Schlittschuhlaufen gehen, und danach Pizza und Eis und dann ins Kino. Meine Eltern haben gesagt, das geht klar. Hoffentlich kriegst du, was du dir wünschst! Finnische Weihnachtsküsse! Deine Sophie!!! Ich las den Brief bestimmt zehnmal durch. Dann konnte ich ihn auswendig. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie komisch Finnisch klingt und wie eine Schule ist, die manchmal lustig und manchmal gruselig ist. Aber das war auch nicht so wichtig. Wichtig war nur, was Sophie über Weihnachten geschrieben hatte, über ihren Weihnachtswunsch. Daran mußte ich den ganzen Tag denken. Sophie wollte auch keine Videos oder CD-Player oder so was. Sie wollte einfach mit ihren Eltern zum Schlittschlaufen und danach eine Pizza und dann ins Kino. Fast so wie ich! Ich wollte ja auch nichts anderes als mit meinen Eltern auf dem Sofa sitzen und reden, über alles. Und Sophies Eltern hatten gesagt: „Geht klar!“ Gerade, als ich anfing, darüber nachzudenken, was wohl meine Eltern zu meinem Weihnachtswunsch sagen würden, fragte mich meine Mutter: „Was schreibt denn die Sophie so? Geht es ihr gut in Finnland? Was macht sie zu Weihnachten?“ „Schlittschuhlaufen“, antwortete ich. „Schlittschuhlaufen?“ wunderte sich mein Vater. „Nur so Schlittschuhlaufen?“
„Ja“, sagte ich. „Erst geht sie mit ihren Eltern nur so Schlittschuhlaufen, dann essen sie Pizza und Eis und dann gehen sie ins Kino“. „Zu Weihnachten?“ lachte mein Vater. „Was sagt denn Sophie dazu?“ „Die hat sich das so gewünscht!“ rief ich und merkte, daß ich bestimmt gleich anfangen würde zu weinen. „Die will das so! Die findet das toll!“ „Was?“ fragte meine Mutter, „keine Geschenke? Nur so zusammensein und sonst nichts?“ „Genau“, flüsterte ich, „sonst nichts“. Dann lief ich in mein Zimmer und heulte los. Ich heulte los, klar, aber wütend war ich auch, sehr wütend! Deswegen nämlich, weil meine Eltern so dumm waren. Dumm waren sie, und noch dazu machten sie sich lustig über Sophie und ihre Eltern. Sie verstanden nicht, daß es toll sein kann, einen ganzen langen Tag nur Sachen zu unternehmen, die Spaß machen, zum Beispiel Schlittschuhlaufen und Pizzaessen und Kino. Das verstanden sie nicht! Aber je länger ich weinte, umso wütender wurde ich. Zum ersten Mal seit so lan- gem war ich wütend, richtig wütend! Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich nachts heimlich meine Sachen packen und nach Finnland reisen würde, um mit Sophie und ihren Eltern Weihnachten zu feiern, so wie sie es tun, mit Spaß und Pizza. Aber dann schlief ich vor Traurigkeit und Wut ein, und als ich wieder aufwachte, war ich nur noch wütend und nicht mehr traurig und wollte nicht mehr nach Finnland, jedenfalls nicht jetzt. Draußen schneite es wieder, und beim Mttagessen sagte ich erst kein Wort. Ich g&aubeaber,ich habe meine Eltern die ganze Zeit über böse angeguckt. Denn irgendwann sagte mein Papa: „Hör mal, Nathalie, übermorgen ist Weihnachten. Wenn du noch weiter so grimmig aus der Wäsche guckst, fällt das ganze schöne Fest ins Wasser. Oder du mußt Schlittschuhlaufen gehen, wie die arme Sophie.“ Die arme Sophie! Jetzt reichte es aber! Jetzt wurde ich erst recht wütend. Wütend und mutig! Wie ein hungriger Puma! Ich hab vielleicht sogar gefaucht, als ich endlich rief: „Die arme Sophie! Die arme Sophie! Die ist gar nicht arm! Die hat Eltern, die mit ihr das tollste Weihnachten feiern, das es gibt, die machen alles, was sie sich wünscht, den ganzen Tag lang. Die ist glücklich, die Sophie, die hat Spaß!“ Dann rannte ich wieder in mein Zimmer und knallte hinter mir die Tür zu und warf mich auf mein Bett. Ich biß ins Kopfkissen, vor Wut, aber auch, weil ich merkte, daß ich noch immer nicht gesagt hatte, was ich mir wünschte- – und weil meine Eltern bestimmt zu dumm dazu waren, selber drauf zu Kommen Dachte ich jedenfalls! Aber da hatte ich nicht recht! Zum Glück. Denn ganz plötzlich saßen Papa und Mama an meinem Bett und sahen mich an. Sie sahen mich einfach an, freundlich und auch ein bißchen traurig.
„Und Sophie freut sich auf Weihnachten?
„Klar“, sagte ich.
„Und du?“ fragte meine Mama.
„Wir haben ganz schön lange dazu gebraucht, bis wir endlich kapiert haben, daß du keine solche Sachen zu Weihnachten willst wie die meisten anderen Kinder“, sagte mein Papa.
„Du kannst es uns sagen“, flüsterte meine Mama und strich mir durchs Haar. „Auf dem Sofa“, sagte ich leise.
„Auf dem Sofa?“ wunderte sich Papa.
„Ja“, sagte ich.
„Und was soll auf dem Sofa sein?“ wollte meine Mama wissen. „Wir“, sagte ich. Und dann legte ich los: „Ja, wir, auf dem Sofa! Draußen schneit es und wir haben einen Weihhachtsbaum, mit Kerzen und so, und wir sitzen auf dem Sofa und ich trinke Kakao, heißen Kakao und ich erzähler euch was, und ihr hört mir zu. Ich erzähle euch ganz viel, ich meine, alles, was mir angst macht, alles, was mich traurig macht, oder was mich ärgert. Ja, und dann, wenn ich fertig bin, gehen wir raus in den Schnee und bauen eine Schneeburg, und dann frieren wir bestimmt und dann gehen wir was essen, am – liebsten Makkaroni, Weihnachtsmakkaroni, ja!“ Meine Eltern haben erst gar nichts gesagt, aber sie haben mit dem Kopf ge- nickt und gelächelt.
,,Hört sich gut an“, sagte mein Papa dann. ,,Wird bestimmt schön“, sagte meine Mama. ,,Du hast uns wohl viel zu sagen?“ fragte Papa. ,,Klar“, sagte ich. ,,viel“.
Und so war es dann auch. Genau, wie ich es mir gewünscht hatte, genau so! Fast wie im Märchen: Es hat geschneit, dicke Flocken, der Tannenbaum hat hell geleuchtet, und wir saßen auf dem Sofa und ich hab alles erzählt. Na ja, nicht alles. Ein paar Sachen sind großes Geheimnis. ich meine, das ist nichts für Eltern. Aber trotzdem hab ich viel erzählt, gefragt und erzählt. Meine Eltern haben ruhig zugehört und manchmal was geantwortet. Ich hab ge- merkt, daß sie es schön fanden so. Ich auch. Klar, es war natürlich nicht so, daß alles ganz plötzlich wieder o.k. war, ich meine, die Traurigkeit und all das. Aber es ging mir nicht mehr schlecht. Meinen Eltern auch nicht. Sie haben sich nicht gestritten an diesem Weihnachtsabend.
Wir sind dann rausgegangen und haben eine Schneeburg gebaut, und als uns kalt war, sind wir in die Pizzeria von Angelo gegangen, und es war richtic Weihnachten. Auf dem Nachhauseweg haben wir nichts mehr gesagt, weil der Schnee die Stadt verzaubert hatte und weil es uns nicht mehr –schlecht ging Wir kamen gerade in unsere Wohnung, da klingelte das Telefon. Ich weiß nicht, warum, aber ich rannte hin, nahm den Hörer ab und rief: ,,Hallo, Hallo,
hier ist Nathalie!“
,,Und hier ist Sophie!“ rief eine Stimme, die ich sehr lieb habe, am anderen Ende der Leitung. Meine Freundin Sophie!
„Wie war Weihnachten?“ fragte sie. „Hast du bekommen, was du wolltest?“ „Klar!“ rief ich und lachte.
Und dann redeten wir und redeten und erzählten uns von unserem Leben, und wie es war, zu Heiligabend, hier und in Finnland.
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