: Der geblendete Kaiser
Nicolaus Sombart porträtiert Wilhelm II. als heimlichen Romantiker, als unpolitisches Gemüt, an dem sich ein nationales Drama der Deutschen vollzog. Schließlich muß vor allem Bismarck dran glauben ■ Von Ulrike Baureithel
Der geblendete Simson“ heißt ein Gemälde, das anläßlich einer Corinth- Retrospektive bis vor kurzem in der Alten Nationalgalerie Berlin zu sehen war. Es zeigt den martialisch-männlichen Simson in Ketten gelegt, bezwungen und, so will es die biblische Überlieferung, entmannt durch weiblichen Verrat. Im Jahre 1912, als Corinths Gemälde entstand, befindet sich das Deutsche Reich auf dem Zenit seiner Macht und an der Schwelle zum Ersten Weltkrieg. Sein oberster Fürst, Wilhelm II., gilt – wie der Kraftprotz Simson – als Inbegriff soldatischer Männlichkeit, seine Person verleiht einer ganzen Epoche den Namen. Doch hinter dieser Fassade virilen Geltungszwangs, so deutet es jedenfalls Nicolaus Sombart in seinem jüngst erschienenen Essay über den letzten deutschen Kaiser, verbirgt sich eine körperliche Versehrtheit, die verkrüppelte linke Hand, und, schlimmer noch, ein romantisches, „unpolitisches“ Gemüt, das Einheit und Frieden stiften will und am Ende Gewalt erntet.
Wilhelm II. – eine tragische Figur also? Heinrich Mann nannte ihn in seinen Erinnerungen einen Komödianten, und auch die bienenfleißige Historikerzunft hat für den repräsentationssüchtigen Hohenzollern wenig übrig: Ein Mann von „extrem begrenzter Sachkompetenz, hektischer Sprunghaftigkeit, notorischer Arbeitsscheu und mit akutem Desinteresse an Aktenbeherrschung“, urteilt zum Beispiel Hans Ulrich Wehler, jedenfalls einer, der die nationalen Geschicke nur in seichte Fahrwasser und schließlich in den Strudel des Weltkriegs lenkte.
Völlig falsch, hält der Berliner Kultursoziologe dagegen und pointiert seine These: In Wilhelm II. nämlich versinnbildliche sich das nationale Schicksalsdrama der Deutschen. Das behindert zur Welt gekommene Kind symbolisiert im zeitgenössischen Horizont den „versehrten“ Reichskörper, dieses beschädigte Gebilde, das durch die bismarcksche „Zangengeburt“ gewaltsam dem europäischen Uterus entrissen wurde.
Der alte Kanzler gegen den jungen König, der ruhmvolle Reichsgründer versus den mutwilligen Reichszerstörer – dieser gängige Geschichtsmythos will nun von Sombart gründlich durcheinandergewirbelt werden. Was wäre, wenn sich die Gegenspieler nur als die beiden Seiten derselben Medaille entpuppten, wenn sich der Gründermythos in sein Gegenteil verkehrte und sich der Kaiser als glückloser Bewahrer, Bismarck als dessen Zerstörer offenbarte? Er werde vielleicht noch seine Rache erleben, die in dem Untergang des von ihm begründeten Werkes läge, tönt es 1897 aus dem Sachsenwald, wohin sich Bismarck nach seiner Entlassung zurückgezogen hat.
Eine gewagte Behauptung, die erst nachvollziehbar wird, wenn man Sombarts Sicht auf die Sozialpathologie der Wilhelminischen Epoche in Rechnung stellt: Das Komplement zum patriarchal-soldatischen Ordnungsmodell, für das Bismarck figuriert, bildet, so Sombart, das männerbündisch geprägte System des Königs und seiner Kamarilla. Beiden gemeinsam sei ihre verdrängte Homosexualität und die phobische Abwehr alles „Weiblichen“. Wie schon in der breiter angelegten Carl-Schmitt- Studie von 1991 zeigt Sombart diese seltsame Allianz von tief empfundener Effeminierung und Misogynie: Allein schon der Verdacht, „unmännlich“ zu sein, produziert einen Männlichkeitskult, der alles austreibt, was diese martialische Virilität angeblich bedroht: Juden, Homosexuelle, Frauen.
Auch Wilhelm, so spinnt der Autor den psychoanalytischen Faden durch die neuere deutsche Geschichte weiter, gerate in diesen Konflikt zwischen monarchisch- militärischem, „männlichem“ Über-Ich und einem unbewältigten, weiblich aufgeladenen Es. Zerrieben zwischen der Vaterfigur des österreichischen Franz Joseph und der matriarchal herrschenden Queen Victoria von England, Wilhelms Großmutter, setzt der Monarch auf seine Funktion als Repräsentant, Vermittler zwischen Gott und seinem Volk. Dieses „sakrale Königtum“, das als das berüchtigte „persönliche Regiment“ Wilhelms in die Geschichte eingehen wird, verkörpert die „unpolitische“, verfassungsabgewandte Variante der Monarchie.
Doch wenn der Fürst die Letztentscheidung über Leben und Tod seines Volkes hat, dann nehmen die, die ihn beraten, eine politische Schlüsselfunktion ein. Nur deshalb wird der Skandal um den homosexuellen Kaiserberater Philipp von Eulenburg, der im Zentrum des Essays steht, zur Staatsaffäre: Öffentlich verhandelt wird hier stellvertretend über die Kompetenz des Souveräns und die mögliche homosexuelle „Verseuchung“ der preußischen Armee. Die medial ausgeschlachteten „Fehlleistungen“ Wilhelms werden zusammengeschlossen mit der beunruhigenden Vorstellung, er könnte von „falschen“ Beratern umgeben sein, die einen „verweichlichenden, verweiblichenden“ Einfluß auf ihn ausübten. Statt in der Reichsgründung selbst die Voraussetzungen zu erkennen, die Deutschlands Untergang unausweichlich machen, wird der Monarch zum Sündenbock. Durch die rituelle Opferung des Kaisers habe sich das deutsche Volk den Passierschein in die Zukunft erkauft.
Unschwer kann Sombart die sexualpathologische Seite dieser von Maximilian Harden initiierten Pressekampagne gegen Eulenburg vorführen. Die Ängste des assimilierten jüdischen Literaten verweisen auf die Phobien, Verdrängungen und Projektionen seiner bürgerlichen Herkunftsklasse. „Der Kaiser hat uns alle entmannt“, läßt Wilhelms Flügeladjudant verlauten, und in eben dieser Wahrnehmung des Monarchen als stellvertretende „Verkörperung“ sieht Sombart die außergewöhnliche, „mysteriöse Beziehung“ zwischen diesem Fürsten und seinem Volk: „Die wilhelminische Epoche“, zitiert er das für Zeitgenossen ungewöhnliche Urteil Walther Rathenaus, „hat am Monarchen mehr verschuldet als der Monarch an ihr.“
Doch eben dieser offenkundige Rettungsversuch des Kaisers bewirkt auch Unbehagen: Der zum „Sündenbock“ seines Volkes auserkorene und um der Reichserhaltung willen rituell getötete König trägt zu hehre Opferzüge, als daß man ihn noch vors Tribunal der Geschichte laden könnte. Es war der Kaiser, der sein Volk auf die Schlachtfelder von Verdun und anderswo schickte, und es waren eben diese jungen Soldaten und nicht der Kaiser, die dort ihr reales Leben ließen.
In der erzählenden Rede Sombarts, die man sich im Kreis der Berliner Wissenschaftskollegiaten, wo dieser Essay ursprünglich entstand, lebhaft vorstellen kann, verschleift sich die historische Schuld des Monarchen in der unerklärten Absicht, dessen Gegenspieler Bismarck zu schlachten. Man mag, wie Sombart, die Reichsgründung zu einer „Sünde wider den deutschen Geist“ erklären und auf politische Alternativen pochen.
Die psychoanalytische Engführung des deutschen Debakels unterschlägt jedoch alle anderen Faktoren, die zur Auflösung des Reiches führten. Und vergessen wir nicht: Noch der geblendete Simson wütete fürchterlich gegen die Philister und richtete Israel zwanzig Jahre.
Nicolaus Sombart: „Wilhelm II. Sündenbock und Herr der Mitte“. Verlag Volk und Welt, Berlin 1996, 240 Seiten, 48 DM
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