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"Warum fügen wir uns geduldig drein?"

■ Immer größere Teile unseres Lebens verbringen wir an den Schnittstellen von Kommunikationsmaschinen. Der Kunsthistoriker Jonathan Crary über die Geschichte der Wahrnehmung, über Aufmerksamkeit, Langew

Jonathan Crary, Professor für Kunstgeschichte an der Columbia University in New York, forscht über die Geschichte des Sehens: Wie wird unsere Wahrnehmung durch technologische, soziale und kulturelle Bedingungen geprägt? In seinem soeben auf deutsch erschienenen Buch „Techniken des Betrachters“ (Verlag der Kunst, Dresden) geht er der Frage nach, wie Veränderungen der Wahrnehmung in der Kunst reflektiert werden.

Zur Zeit arbeitet Crary an seinem zweiten Buch, in dem es um das Phänomen der Aufmerksamkeit geht, das am Ende des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen Problem der Psychologie, Philosophie und Kunsttheorie wurde und heute ein Leitmotiv der „Gesellschaft des Spektakels“ ist.

taz: Herr Crary, unter Medienleuten kursiert die Weisheit: „Aufmerksamkeit ist der wertvollste Rohstoff unserer Zeit.“ Was ist damit gemeint?

Jonathan Crary: Das menschliche Subjekt ist in der Moderne gezwungen, sich permanent an neue technologische und soziale Bedingungen der Wahrnehmung und des Sehens anzupassen. Zur Zeit beschäftige ich mich damit, wie eine bestimmte Vorstellung von Aufmerksamkeit, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte, zu einem Ordnungsmechanismus für das potentielle Chaos des menschlichen Bewußtseins wird. Ohne diese Konzeption von Aufmerksamkeit wäre das menschliche Bewußtsein einem unkontrollierbaren Konglomerat von sinnlichen Reizen aus allen möglichen Richtungen ausgesetzt. Am Ende des 19. Jahrhunderts beginnen plötzlich Leute aus den unterschiedlichsten Disziplinen, sich mit der Fähigkeit des Menschen zu beschäftigen, aus einer unendlichen Zahl von Stimuli eine fokussierte Auswahl zu treffen.

Es ist überraschend, daß Sie das Reglement der Aufmerksamkeit als Kennzeichen der Moderne beschreiben. Seit Baudelaire gilt doch eigentlich der Flaneur mit seinem unaufmerksamen, schweifenden Blick als das typisch moderne Subjekt.

Genau dieser Binsenweisheit, daß Moderne und Unaufmerksamkeit zusammengehören, wie es in der von Theoretikern wie Kracauer und Simmel beeinflußten Literatur heißt, will ich widersprechen. Zwar verlangt die kulturelle Logik des Kapitalismus, daß wir unsere Aufmerksamkeit ununterbrochen von einer Sache zu einer anderen „umschalten“ können. Aber diese Fähigkeit des Hin- und Herschaltens ist ja gerade eine Folge dieses neuen Reglements der Aufmerksamkeit. Sie wird benötigt, damit das Subjekt in der Moderne überhaupt noch funktionieren kann, obwohl es einem ständigen Overkill durch äußere Stimuli ausgesetzt ist. Was Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt wurde, war die Tatsache, daß es Grenzen der Aufmerksamkeit gibt. Gerade wenn man sich auf etwas besonders konzentrieren will, wird man unaufmerksam und abgelenkt. Arbeitswissenschaftler haben herausgefunden, daß gerade die gespannteste Aufmerksamkeit irgendwann ins Gegenteil umschlägt: Wenn ein Arbeiter am Fließband sehr konzentriert einer sich wiederholenden Arbeit nachgeht, wird er nach einer gewissen Zeit in Tagträume abdriften und sein Bewußtsein in einen unproduktiven Zustand freier Assoziationen übergehen. Man hat versucht, das zu reglementieren. Aber das hat nie funktioniert, weil es eine gewisse Grenze gibt, ab der so eine Kontrolle die gesellschaftliche Ordnung bedroht und dadurch sozial gefährlich wird, was dann wieder wirtschaftlich unproduktiv wäre.

Sie haben Edison als einen Pionier der Neuorganisation von Wahrnehmung beschrieben. Können Sie das erklären?

Edison hat das kontinuierliche Neuerfinden der Apparaturen eingeführt, mit denen man Energie oder Sounds oder Bilder als Waren konsumiert. Edison steht für mich für diese ganze kapitalistische Logik, nach der das Subjekt sich ununterbrochen an neue technologische Systeme anpassen muß.

Dasselbe, was heute von Microsoft mit Computerprogrammen gemacht wird ...

Ja, genau. Leute wie Bill Gates, Stephen Jobs oder Andrew Groves arbeiten an dem Projekt der ununterbrochenen Rationalisierung und Modernisierung der Wahrnehmung weiter.

Wie hat dieses moderne Reglement der Aufmerksamkeit unsere unmittelbare Gegenwart geprägt?

In der westlichen Hemisphäre verbringen wir immer mehr Zeit in einem Interface mit einer Maschine, mit der wir durch eine Tastatur und einen Monitor verbunden sind. Das ist ein Zustand aufmerksamer, konzentrierter Demobilisierung des Körpers. Die meisten Leute haben dieses Interface und die ungeteilte Aufmerksamkeit, die es verlangt, schon vollkommen akzeptiert.

Mich interessiert die Frage: Was ist historisch geschehen, daß wir dieses Interface völlig als alles durchdringendes Modell für kreative und produktive Arbeit angenommen haben? Was für eine Rolle spielt Langeweile in diesem Zusammenhang? Gibt es ein modernes Gegenstück zu der „Träumerei“ der Romantiker des 19. Jahrhunderts? Denn ich glaube nicht, daß diese Mensch-Maschinen-Beziehung zwischen uns und dem Computer jemals vollkommen rationalisiert und produktiv gemacht werden kann.

Im Gegenzug zu dieser Demobilisierung des Körpers vermitteln einem die digitalen Medien ja die Illusion, sich frei und selbstbestimmt im virtuellen Raum bewegen zu können. Im „raumlosen Raum“ des Internet scheint das Subjekt sich „überall und nirgends“ zugleich bewegen zu können...

Zur Zeit entwickeln sich verschiedene neue Mythen, die von technologischen Entwicklungen wie dem Internet ausgelöst worden sind. Es sind jetzt im Zusammenhang mit diesen neuen Telekommunikationsformen so viele ungenaue, schwammige Begriffe im Umlauf.

Es wird zum Beispiel viel von „Information“ und „Kommunikation“ geredet. Man tut so, als ob gesellschaftlicher Fortschritt identisch wäre mit „mehr Information“ und „mehr Kommunikation“. Auch dem oberflächlichen Betrachter muß die Absurdität dieser Behauptungen auffallen. Die meisten von uns leben heute in einer so entfremdeten sozialen Situation, daß wir nicht mal mit den Leuten von nebenan reden. Was sollen daran noch mehr Faxmaschinen oder E-Mail ändern?

Mich wundert, daß sich die meisten Menschen diesen technologischen Sachzwängen bemerkenswert geduldig fügen. Man muß jetzt schon alle zwei Jahre einen neuen Computer kaufen, wenn man technisch auf dem neuesten Stand sein will. Die meisten Geräte, die wir als Verbraucher benutzen, sind ja schon antiquiert, bevor wir überhaupt verstanden haben, wie man sie bedient. Es gibt bei diesen Geräten so eine Art eingebaute Melancholie darüber, wie selbstverständlich unsere Erwartungen an diese Maschinen ständig enttäuscht werden.

Glauben Sie, daß sich unsere Wahrnehmung durch die ununterbrochene Interaktion mit Simulationen verändern wird?

Niemand wird je vollständig in so einer komischen Cyberwelt leben. Aber ich glaube schon, daß sich durch die neuen Technologien die Textur unseres Alltagslebens ändern wird. Wir werden uns zwar immer noch den größten Teil unseres Lebens im wirklichen, euklidischen Raum bewegen, also zum Beispiel in Wohnungen wie dieser hier. Aber eine Veränderung wird sich in der Abruptheit abspielen, mit der man von einer subjektiven Zone zu einer anderen springt. Das Alltagsleben wird so eine Art Patchwork sein aus alten, „natürlichen“ Wahrnehmungsräumen und den neuen, technologischen Gebieten, in denen ganz andere Raumerfahrungen möglich sind. Interview: Tilman Baumgärtel

Jonathan Crary: „Techniken des Betrachters – Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert“. Aus dem Amerikanischen von Anne Vonderstein. Verlag der Kunst, Dresden/Berlin 1996, 192 Seiten, 34 Abb., 56 DM

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