Bewegte Vergangenheit

■ Die deutsch-tschechische Erklärung und die Zukunft

Die Geschichte des tschechisch- deutschen Verhängnisses beginnt nicht 1945 mit der Vertreibung der Sudetendeutschen, allerdings auch nicht 1938, als die von den Sudetendeutschen bewohnten Gebiete „heim ins Reich“ kehrten. Ist jedes historische Urteil über diese verwickelte Geschichte notwendig interessengeleitet, unfair, gehorcht es dem Bonmot aus der Zeit des Realsozialismus, nach dem „die Zukunft uns stets gewiß ist, während die Vergangenheit sich ständig bewegt“?

Oder soll man einfach auf das allgemeine Vergessen setzen? Es ehrt die Verfasser der gemeinsamen tschechisch-deutschen Erklärung, daß sie es nicht bei der Beschwörung der gemeinsamen Zukunft beließen. Solche bunt ausgemalten Perspektiven haben stets etwas Zwanghaftes an sich, sie zeigen, wie sehr man Sklave dessen ist, was man verschweigen möchte. Die Tschechen haben jetzt in der „Erklärung“ die Vertreibung der Sudetendeutschen bei ihrem Namen genannt, die Deutschen haben über die Verbrechen an den Tschechen in den Sudetengebieten und im Reichsprotektorat klare Worte gefunden. Ein guter Anfang, erleichtert durch die Arbeit der tschechisch-deutschen Historikerkommission.

Die Führung der sudetendeutschen Lamdsmannschaft ist jetzt beleidigt, fühlt sich in ihren Rechten verletzt, politisch marginalisiert, obwohl sie eigentlich zufrieden sein könnte. Hat sich die Bundesregierung doch davor gedrückt, ausdrücklich auf die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen wegen der Vertreibung der Sudetendeutschen zu verzichten. Es kommt aber jetzt überhaupt nicht darauf an, global den Maximalismus und die märtyrerhafte Attitüde „der Sudetendeutschen“ zu geißeln. Falsch wäre auch, die vielfachen Einzel- und Gruppenbeziehungen, die es heute erfreulicherweise zwischen Tschechen und Deutschen gibt, gegen die Sturheit der Berufsvertriebenen auszuspielen. Die Sudetendeutschen haben ein Recht auf Anteilnahme an ihrem Schicksal. Es gilt, auf die politischen Differenzierungsprozesse in ihren Reihen zu setzen und diese zu fördern. Dann könnte es schließlich dazu kommen, daß sie zumindest in Teilen zur „fünften Kolonne“ der Tschechen in Deutschland werden. Denn sie haben nie aufgehört, ihr ursprüngliches Heimatland zu lieben. Christian Semler