: Abenteuer der Selbsterfahrung
„Eines Tages sagte mir ein Wahrsager...“ ist der italienische Untertitel von Terzanis Buch über Asien. Eine Reise auch zu den verdrängten Dimensionen unserer Wahrnehmung ■ Von Ekkehart Krippendorff
Ein unglücklicher Titel, ein unattraktiver Umschlag – und ein großes Buch! Aber was heißt schon „Buch“, diese allgemeine Einladung eines Autors, andere zu Lesern zu machen. Lesern von was? Ist Terzanis Buch Dichtung oder Wahrheit, Fiktion oder schlichter Bericht, Reisebuch oder Roman? Es behauptet, eine Art Sachbuch zu sein, für dessen Seriosität und Wahrheitstreue des Autors Berufsehre als Journalist einsteht – und dann liest es sich spannend, ja, spannender als ein Roman, und setzt sich dem Verdacht aus: Das kann doch nicht wahr sein! Und ist es doch.
Tiziano Terzani ist Italiener. 1968 „politisiert“, zog es ihn nach China, das China Maos, das China der revolutionären Hoffnung der meisten Linken außerhalb des stalinistischen Ostens. Er lernte Chinesisch – aber nach China hineinzukommen als Journalist war damals mehr als schwierig. Er verdingte sich 1972 beim Spiegel und begann das, was eine Asien-Lebensodyssee werden sollte, als Vietnamreporter. Terzani ist ein ehrlicher Journalist, er hielt die Augen und Ohren offen und nahm die Wirklichkeit nicht wahr durch die ideologische Brille der eigenen Wunschvorstellungen. Die Desillusionierung mit den real existierenden asiatischen Kommunismen war da vorprogrammiert. Wenn er heute, nach 20jährigem Abstand, Vietnam, Kambodscha und vor allem das große China wieder besucht, dann fragt er sich, trauernd, warum so viel Idealismus, Opferbereitschaft und vor allem so viel tatsächlich gebrachte Opfer nicht nur so wenig Gutes, sondern vielmehr, und schlimmer noch, das Gegenteil bewirkt haben. Terzani macht das eindrücklich und sehr präzise fest am Erscheinungsbild der Städte, dem Verhalten der Menschen, den Biographien von Individuen.
Seine große Liebe hatte China gegolten, zuerst dem China Maos, dann aber dem China einer jahrtausendealten Kultur und Weisheit, das von den Gegensätzen und dem notwendigen Gleichgewicht zwischen Yin und Yang wußte und dessen Revolution schließlich auch als Alternative, als Gegengewicht zum kapitalistisch-industriellen Entwicklungsmodell verstanden werden durfte. Hier sollte „eine chinesische Lösung für das Problem der Modernität und des Fortschritts“ gefunden werden. „Daß Mao dieses Problem erkannte, macht ihn groß. Groß war er auch in seinem Irrtum bei der Lösung dieses Problems. Mao war überhaupt groß: ein großer Dichter, ein großer Stratege, ein großer Intellektueller und ein großer Mörder. Groß wie China. Groß wie heute dessen Tragik“ – die darin besteht, daß nach der systematischen Zerstörung der eigenen Kultur unter Mao die unhistorische Modernisierung seiner Nachfolger „Chinesen heranwachsen läßt, die nur davon träumen, sich wie Handelsvertreter zu kleiden, eine Quarzuhr ihr eigen zu nennen, einen Farbfernseher und ein Handy“. Man lese Terzanis Singapur-Kapitel, um zu verstehen, daß das von Biologen, Zoologen und Umweltkennern beklagte Artensterben sein mindestens ebenso dramatisches Äquivalent hat im kulturellen Artensterben durch den (Pyrrhus-)Sieg des Kapitalismus.
Aber das ist nur eine, in sich bereits genügend aufregende Thematik des Berichts. Und diese ist nicht einmal sein eigentliches Thema. Irgendein Wahrsager hatte ihn, für den Flughäfen fast ein zweites Zuhause sind, 1976 gewarnt, im Jahr 1993 kein Flugzeug zu benutzen. Terzani beschloß, halb belustigt und spielerisch, halb ernsthaft, die Warnung zu akzeptieren: Und damit begann dann, genau 16 Jahre später, am 1. Januar 1993, die Reise, über die er uns berichtet – eine Reise nicht „zu Asiens Mysterien“, wie es der deutsche Untertitel ominös ankündigt (der italienische Buchtitel heißt schlicht: „Eines Tages sagte mir ein Wahrsager...“), sondern eine Reise zu den gar nicht mysteriösen, vielmehr „nur“ verdrängten, vergessenen, verkümmerten Dimensionen unseres Wahrnehmungssensoriums. Kants großer Imperativ: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ heißt hier und wurde vom Reisenden Terzani bis in die erstaunlichsten und aufregendsten Dimensionen vorangetrieben: „Habe den Mut, dich wieder deiner eigenen Sinne zu bedienen, und lasse sie dir nicht nehmen durch rationalistische Vorurteile und Scheuklappen.“ Daß es „mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt“, wußte auch Hamlet – aber daß man daraus den Funken eines nun wirklich „richtigen“ Reisens schlagen kann, dieses Abenteuer der Selbsterfahrung läßt uns Terzani miterleben.
Auf seiner Ein-Jahres-Reise entdeckte er den Erkenntnisgewinn der Langsamkeit – von Bus, Bahn und Schiff –, die Bodenhaftigkeit der Kulturen und daß, wer langsam reist, weiterkommt. Indem er, wo immer er Station machte, die möglichst bekanntesten Wahrsager, Kartenleger, Astrologen und sonstigen Experten und Expertinnen für Zukunftsvoraussagen aufsuchte, erschloß sich ihm eine Welt, die sowohl dem Eiligen als auch dem verschlossen sind, der nicht den Kantschen Mut aufbringt, sich unabhängig zu machen vom Vorurteil, daß es keine Zufälle gebe oder kein Vorwissen von Zukunft. Wie sich in diesem Bericht dann alles zu einer großen Sinnkette zusammenfügt, jede Reiseetappe wie von einer unsichtbaren Mechanik getrieben, die nächste auslöst und bewegend in sie eingreift, das ist entweder große darstellerische Konzeption – oder die Wirklichkeit. Die oft, sofern wir uns auf sie einlassen, aufregender ist als ihre fiktionale Erfindung.
Und so ist, zwischen den Zeilen, bescheiden eingestreut in die episodenreiche Kette von Reisestationen, dies auch ein sehr weises Buch: ob es uns belehrt über den zu hohen Preis der Geschwindigkeit, über das Altern, über Freundschaft, Liebe oder die wiederzuentdeckenden kleinen Werte der Menschlichkeit. Denn viele der Wahrsager erweisen sich auch als eben das: kluge und helfende Menschenkenner – von dem, was der politische Beobachter und erfahrene Reporter uns zwecks eigener Urteilsbildung mitteilt, ganz abgesehen. Daß er uns sein eigenes Urteil nicht vorenthält, ist legitim, ja, macht den eigentlichen methodischen Eros dieser Reise aus. Nur Sympathie, nur Liebe zu einem Gegenstand öffnet ihn der Erkenntnis, auch der kritischen Erkenntnis. Das gilt für den Reisenden nicht weniger als in der Wissenschaft.
Tiziano Terzani: „Fliegen ohne Flügel“. „Spiegel“-Buchverlag 1996, 478 Seiten
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