: Grotti, Splüi, Cantine
■ Spurensicherung: Zeugen anonymer Architektur im Alpenraum
Im Italienischen heißen sie spelonche, auch der Name „Spluga“ (das italienische Wort für den „Splügen“-Paß) ist vermutlich verwandt mit dem, was im tessinischen Verzascatal „Sprügh“ und im benachbarten Valle Maggia „Splüi“ genannt wird: Grotten und Höhlen in schwer zugänglichem Gebiet, die aus vorchristlicher Zeit als case dei pagani (heidnische Wohnstätten) bekannt sind. Menschen wie Tieren boten sie Schutz vor Unwettern, dienten als Behausung und Arbeitsstätte, später als Unterstand für das Vieh und als natürliche Vorratskammer für Wein, Fleisch, Kastanien und Milchprodukte.
In den kühlen, steilen Wäldern und Felssturzlandschaften des Valle Maggia und seiner Umgebung, wo sich die Splüi noch in größerer Zahl finden, haben Thomas Burla und Ralph Hut ein bemerkenswertes Projekt fotografischer Spurensicherung realisiert. In Schwarzweißaufnahmen dokumentieren sie die Überreste einer anonymen Fels- und Höhlenarchitektur, in denen wir die Formen einer architettura povera, den Ausdruck der extremen Bedingungen menschlichen Lebens und Wirtschaftens im Gebirge, erkennen können.
Die Bauten dieser „Architektur ohne Architekten“ waren eine im Wortsinne naheliegende Antwort auf die überall herrschende Armut: Das in der Natur ohnehin Vorhandene – vorkragende Felsdächer, Spalten, Klüfte und Höhlen – wurde genutzt, um die kargen Mittel zum (Über-)Leben in optimaler Weise zu bevorraten. Davon zeugen nicht zuletzt die natürlichen oder künstlichen Lüftungsschächte, Wasserleitungen und Regenrinnen, die für eine gleichbleibende Temperatur sorgen.
Wo Natur und Klima den Weinbau zuließen, wurden die Splüi um Cantine erweitert, größere, natürliche, zuweilen auch künstlich ausgebaute Felskeller, in denen vor allem Wein gelagert wurde. Kam ein kleiner Vorplatz mit (zumeist) steinernen Tischen und Bänken hinzu, sprach man vom „Grotto“, einem Ort der Weinproben und der bäuerlichen Geselligkeit.
Burla und Hut zeigen Grotti, Splüi und Cantine als Bauformen einer frühen bäuerlichen Kultur im Alpenraum. Ihre Fotografien sparen den Menschen, und damit Gegenwart, konsequent aus. Werner Trapp
„Grotti, Splüi, Cantine: Anonyme Felsarchitektur im Maggiatal“. Fotografien von Thomas Burla und Ralph Hut. Mit einem Text von Conradin Wolf. Edition Howeg, Zürich 1995, 146 Seiten mit 60 Schwarzweißfotografien in Duplex, 98 DM
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