: Malen, schauen
Die Rehabilitation des Sehens gegenüber den ehrwürdigeren Instanzen der kognitiven Wahrnehmung beschäftigt bitteschön nicht nur die Filmtheorie. Die Malerin Anita Albus nimmt einen Anflug, der dem in „Independence Day“ gleicht: vom Mond in Richtung Erde, um zunächst bei Jan van Eycks kosmischem Panorama zu landen. Mit seiner ultrapräzisen Darstellung von Stadt, Land, Fluß im Vorder- wie im Bildhintergrund hat er sich die Unmöglichkeit herausgenommen, zugleich nah- und fernzusehen, wie es spätere Kameratechniken ermöglichten.
Albus weist daraufhin, daß ihr Leitbild, der Kunstkritiker Erwin Panofsky, auf einem Auge kurz- und auf dem anderen weitsichtig war. Dies ermöglichte ihm die Entdeckung, daß van Eyck den dreidimensionalen Raum aus seiner Fixierung an die Vorderebene des Bildes befreit hatte. Von nun ab ist der Betrachter „als springender Gast in einer Augenweide“ in die Darstellung hineingedacht. In diesem Zusammenhang wirft Albus en passant einigen Unsinn über den Haufen, der in den vergangenen Jahren über die Zentralperspektive und deren ideologische Implikationen in Umlauf war: Statt anzunehmen, daß sich das bürgerliche Subjekt im Fluchtpunkt die Welt auf seinen berechnenden Zugriff zuschnitt, zeigt sie, daß jemand wie van Eyck mehrere Fluchtpunkte benutzte, und daß überhaupt das menschliche Auge nicht mit starrem Besitzerblick auf die Welt schaut, sondern unstet zwischen den Objekten hin und herspringt, die von der Zentralperspektive zugleich distanziert und herangeholt wurden.
Es kommt nicht nur zu Exkursen über die Wirkung des Universalienstreits auf die Malerei, sondern auch zu vergnüglichen Beschreibungen der Tulpenhausse im 17. Jahrhundert, dem Arbeitsprofil des Hofkünstlers (Laubsägearbeiten!), ontologischen Betrachtungen des Tabaks im Stilleben, und schließlich der Rolle des „Kackers“, der in Bildern Patinirs aufzutauchen pflegt wie Hitchcock in seinen Filmen.
Leider Gottes stürzt Albus, die offenbar unter einem Painters Block leidet, im letzten Kapitel in den Kulturpessimismus. Mn
Anita Albus: „Die Kunst der Künste. Erinnerungen an die Malerei“. Eichborn Verlag, 389 Seiten, mit zahlr. Abbildungen, 54 DM
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