: Das ganze Leben vor dem Blutkrebs
Schleswig-Holstein und Niedersachsen finanzieren die weltweit größte Feldstudie über Leukämierisiken: Ersetzt die Statistik die Argumente der Kläger gegen das Atomkraftwerk Krümmel? ■ Von Jürgen Voges
Die Elektrizitätswirtschaft hat den „Streit um Krümmel“, wie ihr farbiger Sonderdruck heißt, für sich entschieden. Hinter der Suche nach den Ursachen der Kinderleukämien, die sich seit 1989 im unmittelbaren Nahbereich des AKWs, vor allem auf dem Elbufer, das dem Atomkraftwerk gegenüberliegt, stark häufen, stünden nur „haltlose Verdächtigungen, unergiebige Studien und ratlose Expertenkommissionen“. Auch die rot-grüne Landesregierung ging auf Distanz. „Von einer Leukämiegefahr durch den Betrieb des Kernkraftwerks Krümmel“ mochte sie „nicht ausgehen“, als das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein über das Wiederanfahren des Reaktors zu entscheiden hatte.
Zwei Wochen später allerdings unterzeichneten die Sozialminister von Schleswig-Holstein und Niedersachsen, Rainder Steenblock und Wolf Weber, endlich doch den Vertrag zur einer „Fall-Kontroll- Studie zu Risikofaktoren für Leukämie und Non-Hodgin Lymphome in Norddeutschland“. Dem Auftrag für diese „weltweit größte und umfassendste Studie“ ihrer Art an das Bremer Institut für Präventionsforschung und Umweltmedizin war ein zweijähriges Tauziehen zwischen Niedersachsen und Schleswig-Holstein vorangegangen. Die Sozialminister beider Länder erhoffen sich jetzt ganz offiziell die Klärung der Frage, „ob mögliche Strahlenbelastungen durch das Kernkraftwerk Krümmel oder andere Risikofaktoren für die dramtisch gehäuften Leukämieerkrankungen in der Elbmarsch verantwortlich sind“.
Leiten wird die Fall-Kontroll- Studie der Bremer Epidemiologe Eberhard Greiser, der sich in diesem Streit bisher keiner der beiden Seiten zuschlagen ließ. Greisers Institut hatte in einer 1994 abgeschlossenen Inzidenzstudie bereits die räumliche Verteilung von 2.253 Fällen von Blut- und Lymphdrüsenkrebs erhoben, die in den Jahren 1984 bis 1993 in den drei Landkreisen um das AKW bei Patienten jeglichen Alters aufgetreten waren. Aus der Häufung der extrem seltenen Kinderleukämie läßt sich ein neunfach erhöhtes Erkrankungsrisiko im Nahbereich des AKWs errechnen.
Greisers Inzidenzstudie stellte nun 1994 für alle Patienten bis 65 Jahre ein um 78 Prozent erhöhtes Leukämierisiko im Radius von fünf Kilometern um den Reaktor fest. Diese allgemeine Risikoerhöhung setzte zudem der Latenzzeit von Blutkrebs entsprechend praktisch erst im Jahre 1989, also fünf Jahre nach Inbetriebnahme des AKWs, ein und betraf vor allem diejenigen Leukämien, die besonders leicht durch radioaktive Strahlen verursacht werden.
Greiser sprach allerdings immer nur von einem „Anfangsverdacht“: Das „erheblich erhöhte Leukämierisiko kann auf das AKW Krümmel zurückgehen, muß es aber nicht“, meint er noch heute. Solange nicht auch alle anderen Risikofaktoren untersucht seien, lasse sich kein wissenschaftlich begründbarer Zusammenhang zum Kraftwerksbetrieb ableiten.
Um eben diese anderen möglichen Risikofaktoren abzuklären, werden sich in den kommenden Jahren etwa 30 MitarbeiterInnen Greisers auf den Weg zu je tausend Lymphdrüsenkrebs- und Leukämiepatienten (oder ihrer Angehörigen) und zu 4.000 Vergleichspersonen machen.
Die niedersächsischen Kreise Lüneburg und Harburg und schleswig-holsteinischen Pinneberg, Herzogtum Launeburg nebst den südlichen Teilen der Kreise Stromarn und Steinburg bilden das Untersuchungsgebiet, in das nun die mit Kassettenrecordern und einem auf Notebook gespeicherten Fragenkatalog ausgestatten Interviewerinnen reisen werden. In allen Wohnungen sollen dabei auch elektrische Felder gemessen und Proben aus Staubsaugerbeuteln entnommen werden, die später etwa auf Spuren von Insektiziden oder Holzschutzmitteln zu untersuchen sind. In den mehr als zweistündigen Interviews werden nach Angaben Greisers auf jeden Fall mehrere hundert Fragen zu beantworten sein. Sie betreffen die genaue Dauer des Wohnens oder Arbeitens in der Nähe des AKWs genauso wie etwa Strahlenbelastungen durch Röntgen oder Radiojodtherapie oder andere Risikofaktoren wie bestimmte Arzneimittel, Pestizide, Benzol, Kontakte mit Mineralöl oder auch Tieren.
„Eine lebenslange Anamnese des Berufslebens und auch des Wohnens“, die auch die Verkehrsbelastung am Wohnort oder etwa die Nähe zu Tankstellen einbeziehe, ist in den Worten von Greiser das Ziel der Befragungen. Aus der Auswertung der über eine Million Antworten ergeben sich am Ende Statistiken, die signifikante Unterschiede der Lebensumstände, der Belastungen von Erkrankten und Vergleichspersonen sichtbar machen sollen.
Greiser rechnet damit, daß die Studie „mit Sicherheit mehrere Ursachen für die untersuchten Erkrankungen zum Ergebnis haben wird“. Das allein schon deswegen, weil nun auch weit von Krümmel entfernte Gebiete einbezogen sind, für die Greiser „mit erheblichen Einflüssen von landwirtschaftlichen Chemikalien“ als Leukämieursache rechnet.
Was das AKW selbst angeht, sei von „als Risiko nicht signifikant“ bis „zum signifikant stärksten Risiko“ alles möglich. Abschließen will Greisers Team seine Studie, die 5,8 Millionen Mark kosten wird, im Sommer des Jahres 2000. Bis dahin haben die Klage aus der Bürgerinitiative Elbmarsch auf Stillegung des AKWs und die Klage der niedersächsischen BUND-Vorsitzenden gegen die Krümmel-Änderungsgenehmigung wahrscheinlich alle Instanzen durchlaufen. Die Kläger müssen darauf setzen, daß jene Lebensdaten, die Greiser nun bei 2.000 Krebspatienten erheben wird, für die in der Elbmarsch Erkrankten längst untersucht sind. In gewisser Weise setzt Greisers große Studie genau dort wieder an, wo einst auch die niedersächsischen Experten begonnen haben. Es werden jetzt nur 200mal mehr Fälle untersucht, so daß am Ende zur Statistik wird, was bisher Argument war.
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