"Wir sind Schaulustige"

■ Dinos und Jake Chapman formen Schaufensterpuppen zur bizarren Freak-Show

taz: Ob Wolfsburg, Minneapolis oder das Pariser Musée d'art moderne: Eine junge KünstlerInnengeneration aus Großbritannien wird derzeit international in Museen herumgereicht. Sarah Lucas oder Damien Hirst sind inzwischen Superstars. Fühlen Sie sich als Teil eines Hypes? Oder existiert der gar nicht?

Dinos & Jake Chapman: Gibt es einen Hype... Schläft Dolly Parton auf dem Rücken? Scheißt der Bär in den Wald? Ist der Papst Katholik? Unser Bullshit-Detektor gibt Warnsignale von sich. Aus der Frage sickert ein ungesundes Verlangen durch, und zwar nach grundlegenden Lehrsätzen einer wahren-Kultur-die-irgendwie- vom-Kapital-ausradiert-wurde...

Andererseits war es Ihre Idee, Massen von Geschlechtsorganen auf Schaufensterpuppen anzubringen. Warum arbeiten Sie mit diesen Mannequins?

Die Skulpturen aus Fiberglas bevorzugen wir zur Zeit aus dem einfachen Grund, weil sie so gut wie irgend etwas anderes geeignet sind, um damit zu spielen.

Gehört die „Übermensch“- Skulptur von 1995, wo der Wissenschaftler Stephen Hawking in seinem Rollstuhl lebensgroß auf einer Art Berg thront, mit zum Spiel?

Hawking symbolisiert für uns den perfekten Menschen. Körper und Geist sind bei ihm vollkommen voneinander geschieden. Auf der einen Seite eine Art Gespenst – sein geniales Hirn; und auf der anderen das langsam welkende Fleisch.

Es sieht so aus, als würde er mit seinem Rollstuhl gleich in den Abgrund kippen...

...oder davonfliegen! Das ist genau die Ambivalenz, die wir angestrebt haben. Du könntest auch halluzinieren, daß er sich in den Himmel erhebt und sich zu den unsterblichen Seelen von Einstein und Newton gesellt.

Ihre Installation „Great Deeds against the Dead“ (1994) zitiert Goyas Radierungen „Desastres de la guerra“ (1808–1814). Goyas Darstellungen unglaublicher Brutalitäten während des Krieges – Hinrichtungen, Folter – machen Sie zu 83 Spielzeugfiguren auf einem weißen, quadratischen Sockel. Ein Kritiker schrieb, Sie wollten Goyas Werk „vernichten“.

Wir leiden an einer Lesestörung – irgendwie hätte die ganze Arbeit „Disasters of Yoga“ heißen müssen, bei all den verrenkten Gliedern... Nein, ernsthaft: Goya eliminiert in seinen Werken das menschliche Subjekt von ganz alleine – ohne unsere Hilfe. Wir waren am Ausmaß interessiert, bis zu dem wir Goyas Überschreitungen der Grenzen menschlicher Vernunft vorantreiben können. In diesem Rahmen ist unsere ganze fortlaufende Arbeit zu verstehen – die Sockel sind dann die „Meta-Gebäude“ des Kunstwerks, sie enthalten das Nicht-mehr-Sichtbare, nur noch mit dem Geist zu Erfassende. Bewohnt werden sie von Vampiren und anderen extraterrestrischen Nicht-Wesen... Sie wissen schon, Immanuel Kant zum Beispiel. Haben Sie die große Version von „Great Deeds against the Dead“ gesehen?

Ja. Da sind den Figuren Körperglieder und Geschlechtsteile abgeschlagen, außerdem sind sie detailgenau bemalt – ein fröhlich bunter Blutrausch. Sind Sie jemals mit Zensur konfrontiert worden?

Ein italienischer Galerist wollte unsere Arbeit „Mummy and Daddy Chapman“, zwei Figuren mit „Fuckfaces“, nicht ausstellen, aber nur infolge einer Ängstlichkeit. Unserer Ansicht nach zwingt einen die Zensur überhaupt erst zu den theatralischen Spielchen, die zwischen Grenzübertretern und den „Übergängen“, den Quasi- Verletzten geschehen. Letzten Endes erweitert die Zensur die Möglichkeiten der Perversion, die dadurch nur noch raffinierter wird – schließlich können Verbrechen nur dann begangen werden, wenn Gesetze sie verbieten. Die Zensur tut so, als ob moralische Verpflichtungen frei von Lust wären – das zu unterstellen ist aber masochistisch, man kann das als masochistische Ökonomie bezeichnen, die die öffentliche Zurschaustellung von Lust oder Freude verbietet... Den italienischen Galeristen haben wir dann ebenfalls als „Fuckface“ modelliert und in ein Pornovideo mit professionellen Darstellerinnen integriert.

Einerseits drehen Sie ein Pornovideo wie „Bring Me the Head of Franco Toselli!“ (1995), andererseits bezeichnen Sie Ihre Arbeit als „skatologische Ästhetik für alle, die des Sehens müde sind“ – also Kunst, die vom Kot kommt. Welche Haltung nehmen Sie denn nun gegenüber der stets präsenten visuellen Kultur ein?

Wir sind Schaulustige, und unsere Augen sind entzündet. Wir wollen nicht, aber müssen schauen. Eines Tages werden die Augäpfel noch an langen Sehnen zerren und danach verlangen, wirklich alles zu sehen. Der visuellen Kultur entgeht letzten Endes niemand. Die optischen Metaphern der Penetration – wenn Sie schon auf unsere „Fuckfaces“ anspielen – werden allenfalls zu größeren optischen Metaphern, wenn man sie ins Extreme treibt.

Daß Sie bei dem Künstlerpaar Gilbert & George assistiert haben, klingt fast nach einem perfekten Künstler-Mythos. Ein Paar geht bei einem Paar in die Lehre...

Mythos? O weh... Nein, wir haben alles, was man wissen muß, schon während unserer kindlichen, prägenitalen, oral-anal-sadistischen Phase gelernt, noch vor der äußerst mickrigen Ausbildung als Künstler. Außerdem ziehen Jake&Dinos die Ungleichartigkeit der Gleichartigkeit vor. Gilbert&George sind wie ein verheiratetes Paar, sehr straight. Uns hat niemand gefragt, ob wir Brüder sein wollen. Interview: Holger Liebs