: Das SOS der Kleinen kommt in Moskau nicht an
■ Im Nordkaukasus, in der Republik Kabardino-Balkarien brodelt es. Rußlands Regierung ist hilflos und ohne Konzept
„Folgen auf die Souveränität bewaffnete Einheiten?“ fragte die Armeezeitung Krasnaja Swesda aufgeregt. Andere Moskauer Blätter entdeckten ein bereits „bekanntes Szenario“ und stellten sich auf „noch einen kriegerischen Konflikt“ ein. Schauplatz war wieder einmal der Kaukasus. Diesmal im mittleren Norden. Mitte November hatte der Nationalrat der Balkaren die Unabhängigkeit einer balkarischen Republik verkündet. Der Unterschied zum tschetschenischen Präzedenzfall: Die Balkaren wollen Rußland nicht den Rücken kehren.
Im Gegenteil, sie baten Präsident Boris Jelzin, ihr winziges Staatswesen von der Größe Schleswig-Holsteins vorerst unter seine direkte Verwaltung zu stellen. Die Initiatoren kamen nicht weit. Als sie den Versammlungsort im Herzen Naltschiks, der Hauptstadt der Republik Kabardino-Balkarien, verlassen wollten, wurden sie von der Polizei arrestiert und verhört. Die Führung des Nationalrats steht seither unter Hausarrest. Im verwüsteten Büro am Stadtrand durchsuchen Milizionäre das Archiv nach belastendem Material.
Die dünne Schicht der balkarischen Intellektuellen ist bis auf die Knochen verängstigt und hüllt sich in Schweigen. Safjan Beppaijew, der Vorsitzende des Nationalrats und Initiator der Souveränitätserklärung, übte im Fernsehen wenige Tage später „Selbstkritik“ und nannte das Unternehmen „unüberlegt und unvernünftig“. Fünf Jahre nach Ende der UdSSR und kommunistischer Herrschaft fühlt man sich in Naltschik in einen sowjetischen Zeitraffer geraten.
Mit der Souveränitätserklärung sagte sich der balkarische Nationalrat von der Doppelrepublik Kabardino-Balkarien los. Zwistigkeiten zwischen den beiden kaukasischen Völkern sind tief verwurzelt. Erst die Sowjetmacht legte die Siedlungsgebiete der beiden Völker 1922 zu einer Verwaltungseinheit zusammen. Die neue Macht ließ sich von der Maxime leiten „teile und herrsche“ und hoffte, so die unbotmäßigen Stämme des Kaukasus willfährig zu machen.
In der Karatschaiisch-tscherkessischen Republik verfuhr man nach dem gleichen Prinzip. Die Karatschaier sind mit den Balkaren eng verwandt, während die Kabardiner sich der Gruppe der Tscherkessen zurechnen. Sprechen die Kabardiner eine nordostkaukasische Sprache, so ist das Idiom der Karatschaier und Balkaren eine westliche Turksprache.
1944 ließ Stalin die Balkaren und Karatschaier in entfernte asiatische Republiken deportieren. Die Kabardiner wirkten bei der Zwangsumsiedlung mit. Als die deportierten Völker 1957 zurückkehrten, wohnten Kabardiner und Russen in ihren Häusern. Oft mußten die Heimkehrer ihren Besitz zurückkaufen.
1991 erklärten sich die Randrepubliken der Sowjetunion für unabhängig. In Kabardino-Balkarien versuchten die inoffiziellen Volksversammlungen – der Nationalrat der Balkaren und der Nationalkongreß der Kabardiner – das gemeinsame Gebiet untereinander zu teilen. Der Versuch schlug fehl.
Die Lage normalisierte sich, ohne das Mißtrauen ganz abzubauen. „Wir Balkaren fühlen uns wie Bürger zweiter Klasse“, meinte ein Lehrer. Obwohl die Balkaren als Titularnation auftreten, sind sie von entscheidenden Posten ausgeschlossen. Dafür gibt es auch arithmetische Gründe. Zwei Drittel der Bewohner sind Kabardiner lediglich ein Zehntel Balkaren. Doch das erklärt nicht alles. Selbstverständlich haben die Kabardiner auch Schlüsselpositionen im Finanzwesen inne. Hier liegt der Hase im Pfeffer.
1990 wurden die deportierten Völker offiziell rehabilitiert. Ein Jahr später versprach Präsident Jelzin den zu Unrecht Verfolgten Wiedergutmachung in Höhe von 600 Millionen Mark bis zum Jahr 2000. Die Betroffenen haben angeblich noch keinen Pfennig gesehen, während Moskau behauptet, überwiesen zu haben. Nach der Unruhe im November versprach der kabardinische Präsident Valerij Kokow, zu prüfen, wo die Mittel versickert sein könnten... Nach dem Gemetzel in Tschetschenien verspürt kein kaukasisches Volk den Wunsch, Rußland aufs neue zu reizen. Der Nationalrat hatte den Zeitpunkt, Selbständigkeit einzufordern, unklug gewählt. Denn die Bevölkerung versagte ihm trotz Enttäuschung ihre Unterstützung. Vor Ort wird gemutmaßt, die „Kriegspartei“ in Moskau habe Generalleutnant Beppaijew benutzt, um eine weitere Krise zu entfachen. Eine wohlwollende Geste aus der Zentrale hätte die angespannte Atmosphäre entkrampfen können.
Gerade darin offenbart sich, daß das geschrumpfte Riesenreich immer noch keine Sensoren ausgebildet hat, um die SOS-Signale seiner kleinen Völker zu empfangen. Der Niedergang des Imperiums und die blutige Tragödie in Tschetschenien waren noch nicht Lehre genug. Ist die politische Elite gegenüber den anderen 180 Ethnien im Lande gleichgültig oder gar überheblich? Obwohl sich unter Jelzin vieles zum Besseren wendete, in der Nationalitätenpolitik hat er versagt. 1994 entbrannte die Schlacht um Grosny. Nun kriselt es in Balkarien. Ein vergleichsweise kleiner Konflikt, dessen noch scheinbare Nebensächlichkeit trügen mag. Irgendwann könnte ein Funken überspringen.
Die Diskriminierung der Völker findet schon im Alltäglichen statt. Einige Städte in der Grenzregion Südrußlands verlangen von Besuchern aus den russischen Kaukasusrepubliken Aufenthaltsgenehmigungen, für jeden Tag, den sie dort verbringen, müssen sie Gebühren entrichten. Auch Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow hielt diese Praktik für nachahmenswert. Er würde seine Stadt gerne ganz von „Personen kaukasischer Nationalität“ säubern. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, warum nicht mehr Völker aufmucken. Mahnungen und Horrorszenarien, Rußland könne das gleiche Schicksal ereilen wie die UdSSR, erweisen sich als haltlos. Denn keine Republik außer Tschetschenien strebte an, die Föderation endgültig zu verlassen. Tatarstan trumpfte zunächst mächtig auf, ließ sich aber durch weitreichende Autonomierechte wieder einbinden.
Auch andere Gebiete wollten Tatarstan folgen. Besonderen Erfolg verzeichneten die Diamantenrepublik Sacha in Sibirien und die Region Jekaterinburg im Ural mit genuin russischer Bevölkerung. Sie wollen nur ihren Vorteil herausschlagen und möglichst wenig des erwirtschafteten Reichtums an Moskau abführen. Das ist nachvollziehbar, enthüllt unterdessen aber auch eine Eigenart des russischen Nationalbewußtseins. Ein ausgeprägtes Wir-Gefühl, das auf normativen Elementen solidarischen Denkens oder Handelns beruhte, hat sich in Rußland nie entwickeln können. In der historischen Praxis stößt man eher auf krasse Brüche im nationalen Selbstverständnis und Neigungen zu Willkür, einen Mangel an Disziplin, kurzum Anarchie. Im Gegensatz zu anderen Kolonialisten brachten die Russen in die unterworfenen Territorien keine zivilisatorische Mission mit oder auch nur ein Ordnungsprinzip, das den angestammten Völkerschaften wert schien, es zu übernehmen.
Als die Russen die Sowjetrepubliken räumten, weinte man ihnen keine Träne nach. Die russische Volksseele war gedemütigt. Sie empfand die massenhafte Flucht der Völker als einen Akt der Illoyalität gegenüber dem Heilsbringer. Kaum jemand erinnerte sich daran, daß die Erde gewaltsam zusammengeklaubt wurde. Nur die Unterworfenen verloren nicht ihr Gedächtnis. Vor ihren Augen errichteten die Eroberer Denkmäler jener Feldherren, die ihre Vorfahren in die Knie gezwungen haben. Dergleichen demütigt. Generationen von Schülern und nicht zuletzt Bürgern eines Staates hören täglich von den bösen arglistigen Tschetschenen und den nicht weniger mordwütigen Tataren. Wie kann unter solchen Bedingungen eine Identifikation mit dem Staatsgebilde erfolgen, wenn die Jugendlichen ihre eigenen Vorfahren verleugnen müssen?
Manchmal hat es den Anschein, als wolle man in Rußland die Chancen eines Vielvölkerstaates gar nicht nutzen. Durch den Brand im Kaukasus sind die Schicksale der anderen Völker in den Hintergrund geraten. Fast fünf Millionen Menschen finnisch-ugrischer Abstammung leben in Rußland, deren Kultur vom Aussterben bedroht ist. Und das obwohl Republiken wie Mordwinien oder Udmurtien sie als Titularnation führen. Als die Frage nach der zweiten Staatssprache aufkam und Mordwinen die Bitte nach einer nationalen Schule vortrugen, antwortete der Bildungsminister der Republik, ein Russe: „Ihr seid eine aussterbende Nation. Verlaßt den Schauplatz der Geschichte ohne Lärm, still, stört die anderen nicht.“ Rußland sucht nach einer eigenen Identität und durchlebt schwere Zeiten. Die Föderalisierung kann indes nicht gelingen, wenn Politiker und Intelligenz fortfahren, sich instinktlos wie unanfechtbare Herrscher einer überlegenen Rasse aufzuführen. Letztlich legen sie selbst die Lunte.
Es fehlt eben das nötige Taktgefühl, Rußland befindet sich mental noch in einem vorzivilisatorischen Stadium. Das gilt auch für den weiteren Kreis der politischen Elite, die hemmungslos von dem „staatsbildenden Volk der Russen“ schwafelt, alle anderen ausgrenzt. All diese Momente weisen daraufhin: Der Kreml hat auch nach dem Untergang der UdSSR keine konstruktive Nationalitätenpolitik entwickelt. Konflikte werden ausgesessen, gemessen wird mit zweierlei Maß. Wo liegt der Unterschied, fragte das Intelligenzlerblatt Literaturnaja gaseta, „wenn Kosaken ihre unsittlichen Nachbarn mit Riemenpeitschen züchtigen, Tschetschenen ihre Betrunkenen indes mit Stockhieben traktieren?“ Der Unterschied ist augenfällig. Über letztere berichtet oft das Fernsehen. Das Völkergefängnis der ehemaligen UdSSR gibt es nicht mehr, in Rußland haben die anderen immerhin Freigang. Klaus-Helge Donath, Moskau
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen