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Eine singende Geierpute im grünen Anorak Von Ralf Sotscheck

Der Mai steht vor der Tür. Das mag in Anbetracht der Wetterlage vermessen klingen, doch der irische Staatsfunk RTE plant bereits generalstabsmäßig für den Schicksalsmonat. Diesmal darf nichts schiefgehen, denn wenn Irland in fünf Monaten zum achten Mal das Eurovisions-Kampfsingen gewinnen sollte, kann man den Laden dichtmachen: Das damit verbundene Heimrecht für 1998 würde die letzten Finanzreserven aufbrauchen.

Nach den Erfahrungen beim letzten Mal wird nichts dem Zufall überlassen. Damals hatte man sich so sicher gefühlt. Das Lied, das für Irland teilnahm, hätte Rex Dildo nicht mal in der Badewanne gesungen. Dazu noch die schrille Stimme der Dubliner Oberschülerin Eimer Quinn – offenbar genau die richtige Mischung für das europäische Wettsingen. Jedenfalls gibt es seitdem schmale Konservenkost im irischen Fernsehen, weil man für die Veranstaltung im Mai sparen muß. Nichts gegen „Casablanca“ – aber jeden Samstag?

Die einzige Unbekannte in der Planung ist das Fernsehpublikum, das darüber entscheiden darf, welcher Song für Irland teilnimmt. Also gilt es, bis zur Abstimmung den nationalen Geschmack so nachhaltig zu verhunzen, daß ein garantiert chancenloses Lied gewählt wird. Mit etwas Glück landet man gar auf einem Abstiegsplatz, wodurch das Problem auch für 1998 erledigt wäre. Seit der karnickelartigen Ländervermehrung in Europa sind die sieben Letztplazierten für den nächsten Wettbewerb disqualifiziert.

RTE ist auf dem besten Weg dorthin. Seit Monaten berieselt man die Bevölkerung mit Dustin, einem singenden Truthahn mit rotem Schnabel, grünem Anorak und hellblauer Pudelmütze. Die Zermürbungstaktik hat Erfolg: Im Herbst standen Dustin und Co- Sänger Bob Geldof, ehemalige Boomtown-Ratte und Live-Aid- Organisator, mit „Rat Trap“ an der Spitze der Charts. Dann mußte Geldof gehen, weil Dustin ihm mangelnde Körperhygiene vorwarf und den Gestank im Studio nicht mehr aushielt.

Den neuen Song, „Christmas Tree“, nahm die Geflügelpuppe allein auf. Seither ist es das meistgespielte Lied aller Zeiten: Ob in Talkshows oder Kindersendungen, ob im Supermarkt oder in der Bahnhofshalle, ob im Wartezimmer beim Arzt oder auf der Flughafentoilette – überall plärrt die Pute aus dem Lautsprecher. Das häßliche Tier ist so populär, daß es bei einer Nachwahl in der Grafschaft Cork mehr Stimmen bekam als Austin Currie von der Regierungspartei Fine Gael. Von einem Truthahn im Anorak besiegt – kann ein Politiker tiefer sinken?

Schlimmer ist, daß sämtliche Nichten, Neffen und Nachbarskinder die rechtzeitig zum Fest erschienene Langspielplatte des musizierenden Federviehs auf dem Gabentisch gefunden haben. So entpuppte sich der traditionelle Umtrunk am Weihnachtsmorgen als Spießrutenlauf. Wo man auch hinkam, Dustin war schon da. Nachher komme er in die Bratröhre, erklärte ich dem Nachbarssohn entnervt. „Gar nicht wahr“, brüllte Kieran entsetzt, „man kann ihn überhaupt nicht essen. Er ist nämlich eine Geierpute!“ Daß er ein Rabenaas ist, hatte ich vermutet, aber ein Aas fressender Truthahn? Um auf Nummer Sicher zu gehen, sollte RTE ihn im Mai gegrillt ins Rennen schicken.

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