MAKLER FÜR DEN LEBENSSINN

Der Deutsche Reisebüro Verband tagte 2006 am Timmendorfer Strand. Auszüge aus dem Vortrag eines Freizeitforschers: Massentourismus ist passé  ■ Eine Dokumentation, zusammengestellt von Edith Kresta

Massentourismus – die wüste Erscheinung bis Ende der 90er Jahre – gehört endgültig der Vergangenheit an. Auch darin haben sich die Prophezeiungen der Seher früherer Zeiten bestätigt: Mit Anbruch des Zeitalters des Wassermanns um die Jahrhundertwende ist die Menschheit erwachsener, verantwortlicher, vor allem aber sinnsuchender geworden. Nun schweift sie nicht mehr wie Heuschrecken über die Kontinente und frißt einen unberührten Landstrich nach dem anderen kahl. Heute reisen nur noch diejenigen in die Ferne, die es sich wirklich leisten können. Und das sind wenige.

Reisen ist teuer geworden. Ökosteuern haben sich nach langen, zähen Konferenzen weltweit durchgesetzt. Das Länderhopping großer Veranstalter fand nach der Besteuerung von Flugbenzin und Ressourcenverbrauch ein jähes Ende. Heute beschränken sich die meisten Deutschen – immerhin noch zwanzig Prozent der Bevölkerung leisten sich Reisen – auf Europa.

Und so findet der deutsche Urlauber seine Traumwelten zwischen Timmendorfer Strand, Playa del Ingles, Lido di Jesolo, Antayla... die klassischen europäischen Reiseziele. Denn ganz Europa setzt auf Dienstleistung und die Segnungen der Reise- und Freizeitindustrie, die von der EU kräftig subventioniert wird.

Wir bleiben unter uns. Wir lassen Afrika den Afrikanern und bieten trotzdem schwarze Menschen. Beispielsweise im Afrika- Live-Club vor den Toren Berlins. Ein künstliches Afrika mit lebenden Löwen, dem Zauber der Schamanen, schwarzem Personal und hervorragender afrikanischer Küche. Unsere „Ferienanlagen der fünften Generation“ sind optimal ausgestattet: Multimedia-Shows, schwarze Messen, Artenvielfalt, andere Kulturen, Begegnung, Triebregulierung ... Sie bieten für jeden Geschmack, jedes Bedürnis und jeden Geldbeutel das richtige Angebot. Die alten Anlagen aus massentouristischer Vorzeit wurden begrünt und umgebaut.

Die besten Künstler, Architekten und Marketingspezialisten haben daran verdient. Sie schufen Gesamtsituationen, das Design für schöne Zeit. Diese Anlagen sind längst über die banale Spaß- und Animationskultur hinaus. Hier kann man die Seele baumeln lassen. Die phantasievollen Einrichtungen erfüllen die geheimsten Wünschen der Urlauber: Einsamkeit, Gemeinsamkeit, Erotik, Abenteuer, Individualität, Clanning. Solche ausgewiesenen Freizeitzonen haben nichts, aber auch gar nicht mit den touristischen Ressorts zu Zeiten des Massentourismus gemein. In unseren „Anlagen der fünften Generation“ wird die zusammengeschmolzene Masse in stimmigen psychischen und sozialen Situationen atomisiert und geschickt zwischen unzähligen Anlagen und Angeboten verschoben. Wir haben das Glück der Kunden in der Hand. Alles nur eine Frage des Preises und des Einfühlungsvermögens ihres Spezialisten im Reisebüro. Der fragt: „Wie möchten Sie sich fühlen.“ Und bastelt dann mit dem Web das passende Angebot zusammen. Pauschal ist out – gefragt ist ein Patchwork von Dienstleistungen, Möglichkeiten. Der Beruf Reisekaufmann gehört der Vergangenheit an. Längst heißen Reisebüros Agenturen für Lebensgefühl, dort arbeiten sogenannte „Traumdeuter“.

Sie haben ein vierjähriges Studium mit Schwerpunkt Psychologie und Verkaufsförderung absolviert. War Reisen, Tourismus, Freizeit lange Zeit eine gesellschaftlicher Randbereich, eine Ware wie Waschmaschinen, weiß man nun, daß hier Lebenssinn verkauft werden muß.

Modernes Reisen findet im Kopf, aber mit allen Sinnen statt. In Wirklichkeit reisten wir schon immer, wie weit wir auch fuhren, zu uns selbst. Auf dem Müllplatz der Geschichte sind sogenannte „Richtig Reisende“ mit Interesse für Kultur und Geographie gelandet. Ihre Neugierde war bloße Selbsttäuschung, Ich-Verleugnung. Sie waren das besserwisserische Produkt unspiritueller Verklemmtheit und Ich-Störung. Typische Charaktere des agressiven Fisch-Zeitalters. Selbstbegegnung kreiieren nun die Agenturen für Lebensgefühl. Denn Urlaub und Freizeit sind die emotional empfindlichste Situation. Hier wollen wir leben, ganz sein: ganz spießig, ganz primitiv, ganz cool, ganz luxuriös... je nachdem. Wir suchen uns alternative Identität auf Zeit. Für dieses Identity-Switching muß der Veranstalter den passenden Set an Identitäten bereitstellen: Mal waghalsiger Jerry Cotton, mal kerniger Naturbursche.

Zielgebiete spielten für diese Identität auf Zeit ohnehin nie eine Rolle. Fremde Landschaften und Kulturen begünstigen bestimmte Lebensgefühle: Man denke nur an Freiheit und Abenteuer in Amerikas Weiten, das Einzigartigkeitsgefühl auf den Gipfeln des Himalaja, die Meditation in der libyschen Wüste oder die Exotik des Orients. Wir haben dem Wesen dieser Gefühle nachgespürt, plündern die Mythen und bieten das artgerechte Ambiente in unseren „Anlagen der fünften Generation“. Damit schaffen wir wahrere Wirklichkeiten, als die echten je zu sein vermochten.

Die Symbolgeber des Reisens, „jene Hohepriester, die neue Versammlungen von Selbst und Sinn inszenieren, die neue Synästhesien knüpfen, die altes Herumliegendes in neue Märchenbücher verpacken“ – so die wunderschöne Stellenbeschreibung eines Managers –, liefern die perfekte symbolische Reise. In einer ausgebleichten Gegenwart, Resultat eines Jahrzehnte währenden rationalistischen Profitdenkens, sind sie wichtiger denn je: die Traumbegleiter, Traumfabrikanten, Traumdeuter.

Und so steht die Reise- und Freizeitindustrie trotz hoher Arbeitslosigkeit und der Krisenhaftigkeit anderer Wirtschaftssektoren blendend da. Die Touristikkonzerne sind die reichsten Unternehmen, denn sie wurden rechtzeitig zum Makler für Sinnhaftigkeit. In den Kathedralen der Freizeitgesellschaft finden viele Arbeit, Künstler ihre Verwirklichung und das gebeutelte Individuum Lebensfreude. All das macht Sinn. Lebenssinn. Die Reise ist endlich dort angekommen, wo sie schon immer hinwollte: bei den hochwertigen Angeboten der „Ferienanlagen der fünften Generation“ und rundum glücklichen Kunden.