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GESUNDET NACH RADIKALKUR

Der Diabetikeraufstand zu Hannover erzwang die Reform des deutschen Gesundheitssystems  ■ Von Ellis Huber

Die German Medicus GmbH blickt mit Zuversicht ins nächste Jahr. Sie rechnet nämlich mit einer Verdoppelung ihres weltweiten Geschäftsergebnisses. Der Erfolg dieses vernetzten Unternehmens aus dem Non-Profit-Sektor schlägt alle Rekorde. Gesundheitssystementwicklung und gesundheitliche Serviceleistungen sind zum Exportschlager der deutschen Wirtschaft geworden. Die sinkende Arbeitslosigkeit in Deutschland und die Wachstumsraten des Bruttoinlandproduktes hängen wesentlich mit dieser Entwicklung zusammen. Deutsche Gesundheitsfirmen beherrschen die globalen Gesundheitsmärkte, überall spricht man vom „Deutschen Gesundheitswunder“.

Delegationen aus unzähligen Ländern reisen an, besuchen die Health-Schulen im Lande, lassen sich informieren und qualifizieren. Die internationalen Experten zeigen sich begeistert von der fachlichen Brillanz, der ästhetischen Struktur, der robusten Funktionalität und der kostengünstigen Produktivität des hiesigen Versorgungssystems.

Die German Medicus GmbH wurde binnen zehn Jahren zum weltweit größten Systemanbieter für gesundheitliche Dienste. Das jährliche Geschäftsvolumen hat die 100-Milliarden-Euro-Grenze gerade überschritten. Über seine nationalen wie internationalen Töchter setzt der global vernetzte Konzern gut 500 Milliarden um.

Inzwischen hat die deutsche Gesundheitsindustrie die wirtschaftliche Bedeutung der Automobil- und Chemieindustrie weit überflügelt. Niemand wollte noch vor wenigen Jahren glauben, daß ein einzelnes Non-Profit-Unternehmen, daß der Non-Profit-Sektor der deutschen Volkswirtschaft so wichtig würde. Das Wirtschaftswunder der Gesundheitsbranche hat seine Wurzeln. Der Jahreswechsel gibt Anlaß, die Geschichte nochmals zu erinnern.

DER AUFSTAND ZU HANNOVER

Die Expo 2000 sollte die deutsche Industrie in ihr bestes Licht rücken. Bundeskanzler Helmut Kohl und Ministerpräsident Gerhard Schröder hatten damals mit vereinten Kräften die Schau ermöglicht. Hannover wollte die „Menschen im Dienste der Technik“ begeistern und „grüne Signale für den gesellschaftlichen Fortschritt“ setzen. Die Stadt wurde herausgeputzt, und die Pavillons der Daimler-Benz- und der Volkswagen-AG überstrahlten mit viel Prunk die Weltausstellung. Die Volksmassen konnten kommen, und sie kamen.

Der Deutsche Diabetikerbund hatte gemeinsam mit der Rheuma- Liga die Eröffnung der Expo 2000 genutzt, um gegen die 6. Stufe der Gesundheitsreform zu protestieren. Die darin vorgesehene „Zuckersteuer“ und der „Rheumapfennig“ – so nannte man später die erweiterte Selbstbeteiligung für Diabetes- und Rheumakranke – hatten den Unmut der Bevölkerung endgültig zum Überdruß gesteigert: „Jetzt reicht's uns!“

Die Zucker- und Rheumakranken, die Gichtbrüchigen und die Krebspatienten, die chronisch Kranken und viele Gesunde folgten dem Ruf. Gut 250.000 Demonstranten besetzten zur Eröffnungsfeier das Expo-Gelände und blieben einfach da. Die Bauern aus dem Wendland, der Lüneburger Heide und selbst aus dem fernen Eichsfeld solidarisierten sich mit der Bewegung. Lange Traktortrecks mit Lebensmitteln und notwendigen Utensilien zogen zur Landeshauptstadt. Die Ärztekammer Niedersachsen organisierte die medizinische Grundversorgung, und die Kirchengemeinden von Hannover veranstalteten Solidaritätsfeste. Die ganze Stadt war plötzlich auf den Beinen, die Bevölkerung erhob sich bundesweit. Die Historiker nannten das Ereignis später den „Diabetikeraufstand zu Hannover“.

PROFITEXPLOSION IM PHARMABEREICH

Volksaufstände kommen nicht aus heiterem Himmel. Ab 1989 hatte eine „Gesundheitsreform“ die nächste gejagt. Im Jahr 1999 spuckte die Gesetzgebungsmaschinerie monatlich ein neues Ordnungswerk aus, um die sogenannte „Kostenexplosion“ in der Krankenversicherung zu bannen.

Dabei lagen die Ausgaben für Gesundheit seit 1980 stabil bei acht bis neun Prozent des Bruttoinlandproduktes. Die USA lag bereits 1995 über 14 Prozent, Deutschland erreichte – international mittelmäßig teuer – gerade 8,6 Prozent. Es gab also keine Kostenexplosion im Gesundheitssystem. Die Bonner CDU-FDP-Koalition verschob nur Finanzierungslasten der Renten- und Arbeitslosenversicherung auf die Krankenkassen. Diese politische Kostenverlagerung hatte eine künstliche Steigerung der Kassenbeiträge zur Folge, und daraus machte die Bundesregierung unisono mit den Arbeitgeberverbänden ein gesellschaftliches Problem: Die Kranken wurden zum Sündenbock für politische Versäumnisse. Politik und Wirtschaft projizierten ihre eigene Schwäche auf die Kassenbeiträge der Lohnempfänger.

Die neoliberalen Strategien wollten überdies die Profitmaximierung für die Gesundheitsindustrie verbessern und durch Privatisierung der Risiken mehr Geld aus den zahlungskräftigen Schichten der Bevölkerung schlagen. Die Pharmakonzerne erzielten damals die höchsten Gewinne ihrer Geschichte, und die Medizinwirtschaft boomte. Staatssubventionen puschten die Gentechnologie und die Molekularbiologie. Die US- amerikanischen Managed-Care- Organisationen entdeckten den deutschen Wachstumsmarkt.

Der damalige Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer wurde zum erfolgreichen Lobbyisten dieser Interessen. Er verhinderte die sozial verträgliche Steuerung der zunehmend kommerzialisierten Medizin, und er optimierte unter dem Vorwand der Kostendämpfung die private Geldabschöfpung. Seine Reformgesetze machten die Krankenversicherung zur Pfründesicherung und sprudelnden Geldquelle für die bekannten Nutznießer und Profiteure der herrschenden Krankenversorgung.

An dieser schleichenden Entsolidarisierung und Ausbeutung der Bevölkerung änderte sich auch wenig, als 1998 eine CDU-SPD-Regierung das Bonner Ruder übernahm. Die neue Koalition folgte den gesetzten Rahmenbedingungen der Wirtschaftselite. Das treffliche Gespann aus Sozialminister Rudolf Dressler und Gesundheitsminister Horst Seehofer perfektionierte die Kostendämpfungs- und Selbstbeteiligungsspirale. Die Gewalt der globalen Kapitalmärkte ließ die staatlichen Kassen ebenso ausbluten wie die regionalen Gesundheitsdienste und Pflegehilfen.

DIE WENDE IN BERLIN

Die Elefantenhochzeit zwischen Kohl und Lafontaine lähmte die ganze Republik. Deutschland erlebte eine zwanghaft depressive Restauration. Dagegen rebellierten die Wähler in Berlin. Die Wahlen zum Abgeordnetenhaus 1999 endeten mit einem sensationellen Ergebnis: 32 Prozent für die CDU, 27 Prozent für die Bündnisgrünen, 24 Prozent für die SPD und 13 Prozent für die PDS.

Die Sozialdemokraten wollten aus lauter Angst die Große Koalition fortführen. Es war dem beherzten Einsatz des Sozialethikers und Bischofs Wolfgang Huber zu verdanken, daß die politische Wende möglich wurde. Annette Fugmann-Heesing als Regierende Bürgermeisterin wagte neue Prioritäten: Sozialpolitik bestimmte die Wirtschaftspolitik. Der neue Senat setzte ungeahnte Kräfte in der Bevölkerung frei.

Der Reformprozeß reorganisierte die Heilkunst und befreite das Gesundheitssystem vom bürokratischen Ballast. Die Vergeudung von Zeit, Arbeitskraft und Energie außerhalb der helfenden Beziehungen ließ sich weitestgehend ausschalten. Sämtliche Personal- und Sachmittel wurden auf die unmittelbare Hilfe für den kranken Menschen konzentriert. Die Kultur des Heilens bestimmte die Strukturen der Versorgung. Wie können wir optimale Autonomie für Menschen mit Gebrechen erreichen und ihrer selbständigen Lebensbewältigung dienen? Kreative Antworten auf diese Fragen bei minimalem Mitteleinsatz waren plötzlich gewünscht.

Die arbeitende Basis im Berliner Gesundheitswesen machte mit. Täglich entstanden neue Ideen für eine bessere Medizin. Bürokraten gingen freiwillig in die Krankenpflege. „Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser“ lautete das Motto der Veränderungsprozesse. Das Chefarztsystem zerfiel. Die Hierarchien wurden auf drei Ebenen verschlankt: Berufsanfänger in Weiterbildung, leitende Mitarbeiter und Führungskräfte auf Zeit.

Die alten Finanzierungssysteme mit ihrer korrumpierenden Struktur wurden gänzlich aufgegeben, neue ökonomische Anreize ausgearbeitet. Gesundheitsberufe, Verbraucherzentrale und Krankenkassen entwickelten gemeinsam sinnvolle Honorierungsweisen. Es gelang tatsächlich, ein radikal verändertes Verständnis von Teil und Ganzem, von Krankheit und Gesundheit, von Expertentum und Selbsthilfepotential durchzusetzen.

Die Dynamik dieses „Change- Managements“ wurde bald mit der „Zweiten Revolution in der Automobilindustrie“ verglichen, die vor über 40 Jahren die Produktionsverhältnisse in Japan verändert hatte.

Die „Zweite Revolution im Gesundheitssystem“ wurde zum Inbegriff des Wandels, und so wie die japanischen Automobilbauer die Manager bei Porsche und Mercedes das Umdenken lehrten, wurden deutsche Gesundheitsmanager zu weltweiten Lehrmeistern für die neue Produktion von Gesundheit und Heilkunst. Die Tochtergesellschaften der Berliner Ärztekammer, Medicus, Institut für Gesundheitsmedizin und Mut, Gesellschaft für Gesundheit, verbreiteten die Kommunikation über das neue Denken und Handeln. Ihre Angebote zur Qualifizierung, Organisationsentwicklung und Systemcontrolling konnten die stürmisch wachsende Nachfrage kaum befriedigen.

DER MEDICUS- EFFEKT

Die Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation, Ilona Kickbusch, mobilisierte die internationalen Reformkräfte. Die aus Deutschland stammende Gesundheitsexpertin hatte bereits 1986 die Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung durchgesetzt und ein neues gesundheitspolitisches Denken angemahnt.

Berlin wurde zum Modellfall für die neue Praxis und zum Vorbild für die bundesdeutschen Gesundheitsreformer. Der frische Wind aus Berlin baute die Gesundheitsbewegung in Deutschland auf. Der Diabetikeraufstand zu Hannover hätte ohne diese Erfahrung nicht so viel politische Durchsetzungskraft entfalten können.

Als die Expo 2000 von der Bundeswehr befreit werden sollte, Bundesgrenzschutz und Polizeieinheiten in Niedersachsen zusammengezogen wurden, brachen in ganz Deutschland die Proteste los: Gesunde und Kranke, Ärzte und Pfarrer zogen durch die Straßen. „Wenn in Hannover Panzer rollen, brennen hier die Rathäuser!“ So wütend war die Bevölkerung, daß die Regierenden nachgeben mußten. Ein Medicus-Effekt ergriff Deutschland, die Gesundheitsmedizin veränderte das Land tiefgreifend. Eine vergleichbare Wirkung hatte nur 1968 die Studentenrevolte ausgelöst.

DIE SOZIALE MARKTGESELLSCHAFT

Die Expo 2000 markierte einen Wendepunkt. Die verunsicherte Bundesregierung berief einen nationalen Gesundheitsrat, um den Aufruhr im Land zu kanalisieren. Diese Konferenz revitalisierte das Soziale in der deutschen Marktwirtschaft und entwarf das Leitbild einer sozialen Marktgesellschaft. Die Politik in Bonn war von unten beherrschbar geworden, echte Demokratie setzte sich durch. Nach der Wahl zum Deutschen Bundestag 2004 machten Bundeskanzlerin Heide Simonis und Vizekanzler Joschka Fischer die gesellschaftlichen Gestaltungsräume frei. Es war eine Wohltat nach der jahrelangen machtpolitischen Blockade.

Das Gesundheitssystem aus Deutschland erreichte immer mehr internationale Anerkennung. Medizin- und Gesundheitsexperten wurden zur begehrten „Exportware“ der deutschen Dienstleistungswirtschaft. Gleichzeitig stieg die Beschäftigtenzahl im Gesundheitssystem. Über sechs Millionen Arbeitsplätze hingen mit gesundheitlichen Angeboten zusammen.

Bereits vor dem Jahr 2005 beauftragten Australien, Italien, Südafrika, Argentinien und Korea die German Medicus GmbH, den internationalen Ableger der ursprünglichen Berliner Gesellschaft, mit der Reorganisation ihrer Gesundheitssysteme. Jetzt haben Japan, Indien und sogar die USA die bewährte Hilfe aus Deutschland geordert.

Ellis Huber ist Präsident der Ärztekammer Berlin

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