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Ein Spanier namens Boris Becker

Vorwitziger Rückblick auf das olympiafreie, aber dennoch ereignisreiche Sportjahr 1997  ■ Von Matti Lieske

Maranello, 7. Januar: Überraschung bei der Präsentation des neuen Autos von Michael Schumacher: Es fährt. Auch nach mehreren Runden liegen weder Schrauben noch abgefallene Motorteile auf der Strecke, und sogar die Bremsen funktionieren weiterhin einwandfrei. „Perfekt“, freut sich Ferrari-Sportchef Jean Todt, der die einschneidenste Änderung am brandneuen Schumobil zuvor so beschrieben hat: „Die Schnauze wird länger und flacher.“ Todt ahnt nicht, wie recht er mit dieser Aussage behalten soll.

Melbourne, 26. Januar: In einem hartumkämpften Finale gewinnt Pete Sampras gegen Lokalmatador Mark Philippoussis die Australian Open und verblüfft die Weltpresse anschließend mit der Information, daß er seit zwei Tagen deutscher Staatsbürger sei. Innenminister Kanther habe der Einbürgerung unverzüglich zugestimmt, weil es nach der Davis-Cup-Absage von Boris Becker im vordringlichen nationalen Interesse liege, Sampras schon im Februar gegen Spanien einzusetzen. Kanther verwahrt sich gegen Vorwürfe einer Sonderbehandlung. Die Ahnen von Sampras kämen allesamt aus Europa, er habe ein paarmal in Deutschland gespielt, fühle sich dort „einigermaßen wohl“, wenn es nicht gerade regne, und sei vielfacher Millionär. Jeder Pakistani, Bosnier, Mamelucke oder Neger, der dieselben Voraussetzungen mitbringe, könne ebenfalls mit einer zügigen Bearbeitung seines Antrages rechnen. Pete Sampras nennt als Grund für seinen Schritt: „Ich möchte unbedingt in Hannover wohnen.“

Sestrière, 2. Februar: Eklat am Eröffnungstag der alpinen Ski-WM. Die Abfahrt der Männer kann nicht gestartet werden, weil die Piste von lärmenden, fahnenschwenkenden, weintrinkenden, spaghettivertilgenden und kleinkinderhätschelnden Tifosi besetzt ist. Eine Protestaktion gegen die Ankündigung, daß Alberto Tomba nicht, wie von ihm selbst auf seiner Homepage im Internet versprochen, in der Abfahrt starten werde. „Kleine Scherzo“, grinst Tomba, erklärt sich aber bereit, wenigstens den Zielschuß hinunterzufahren, um seine Fans zu beruhigen. Dabei rutscht er auf einer Weinlache aus, verstaucht sich die Hand und muß seine weitere Teilnahme absagen. Italiens Präsident Scalfaro ordnet Staatstrauer an, die Weltmeisterschaft wird abgesagt.

Salzburg, 4. Februar: Michael Stich wird Österreicher und erklärt, daß er künftig nicht mehr als Tennisprofi, sondern als Schauspieler arbeiten will: „Jessica sagt, dazu habe ich mehr Talent.“ Die erste Rolle des 28jährigen ist die eines Tennisspielers in der neuen Fernsehserie „Stich für Stich“. Sein Partner: Howard Carpendale als Boris Becker.

Melbourne, 7. März: Bestürzung im Ferrari-Lager zwei Tage vor dem Großen Preis von Australien: Michael Schumachers Kinn hat wieder zu wachsen begonnen. Der eilig nach Melbourne gerufene Dr. Müller-Wohlfahrt diagnostiziert eine seltene Krankheit, die erst einige Mal im 19. Jahrhundert aufgetreten war: die sogenannte „Kolbenfresse“. Der Arzt aus München rät von einer Operation ab: „Es wäre einfacher, das Chassis des Ferrari den veränderten Gegebenheiten anzupassen.“ Immerhin kann Müller-Wohlfahrt die besorgte Frage von Corinna Schumacher, ob die Krankheit vererbbar sei, positiv beantworten: „Nur auf Brüder.“

Dublin, 2. April: Die FIFA beschließt revolutionäre Regeländerungen im Fußball. Ein Spiel besteht ab 1998 aus zwei 60minütigen Time-outs. Jeder Trainer darf acht fünfminütige Spielzeiten nehmen. Die Rückpaßregel wird verschärft: Handspiel ist künftig auch bei Torhütern mit der roten Karte zu ahnden.

Berlin, 18. Mai: In blendender Form präsentiert sich Herausforderer Graciano Rocchigiani bei seinem WM-Kampf gegen Virgil Hill. Drei Stunden vor Kampfbeginn streckt er mit einem Leberhaken einen Türhüter zu Boden, der ihn nicht erkennt und seine Eintrittskarte sehen will, kurze Zeit später bricht er einem Würstchenverkäufer („Viel zu teuer, det Jelumpe“) mit einer ansatzlosen Linken den Kiefer. Sein Manager Sauerland erhält im Vorbeigehen einen Hieb auf den Solarplexus („Hat mer blöd anjequatscht“), und während der Vorstellung der Kämpfer findet er noch Zeit, RTL- Co-Kommentator Henry Maske einen freundschaftlichen Jab aufs linke Auge zu versetzen. Reporter Werner Schneyder kommt mit einem leichten Wischer davon. Für Hill fehlt dann allerdings ein wenig die Kraft, Rocchigiani verliert knapp nach Punkten.

München, 3. Juni: Da es für Bayern München wieder nur zur Vizemeisterschaft hinter den Dortmunder Borussen gereicht hat, muß schleunigst ein neuer Trainer her. Die Wahl fällt auf Svetislav Pesic. „Wir brauchen einen, der die Spieler motivieren kann“, erläutert Präsident Beckenbauer und weist Fragen zur Sachkenntnis des Serben zurück: „Davon haben wir selbst genug“. Auch Pesic sieht keine Probleme: „Fußball, Basketball, wo ist Unterschied. Spielen zwei Mannschaften, Ball muß in Korb!“

Athen, 2. August: Es ist entschieden. Der schnellste Mann der Welt heißt: Carl Lewis. Knapp vor Michael Johnson und Donovan Bailey gewinnt der US-Amerikaner bei der Leichtathletik-WM völlig überraschend das auf Geheiß von Primo Nebiolo ins Programm gehievte 150-Meter-Rennen. „Ich habe von vornherein gewußt: Das ist meine Strecke“, sagt der strahlende Sieger, „für die 100 fehlt mir die Spritzigkeit, 200 schaffe ich nicht mehr.“ Michael Johnson faßt sich schnell und erklärt: „Dann gewinne ich eben als erster Mensch die 600 Meter.“

Athen, 4. August: Die Französin Marie-José Perec gewinnt als erster Mensch die 600 Meter. Bei den Männern siegt Nico Motchebon knapp vor Michael Johnson. Sergej Bubka holt sich im Weithochdreisprung den Titel des besten Springers der Welt, nachdem die Jury seinem Antrag, einen Stab benutzen zu dürfen, kurz vor Wettkampfbeginn stattgegeben hat. Die Proteste von Mike Powell, Javier Sotomayor und Jonathan Edwards gegen diese Entscheidung werden abgewiesen.

Atlantic City, 8. August: Axel Schulz scheitert auch bei seinem siebten Versuch, Weltmeister zu werden. Von Trainer Manfred Wolke hervorragend auf seinen Gegner Andrew Golota eingestellt, gelingt es dem Frankfurter mit seiner glänzenden Defensive, allen Tiefschlägen des Polen auszuweichen. Am Ende verliert er knapp nach Punkten. „Der ist putzig, der kann wiederkommen“, sagt Promoter Lou Duva, doch Schulz hat die Nase voll. „Jetzt werde ich Amateur“, erklärt er entschlossen. Schon bei der WM im Oktober in Budapest will er endlich den ersehnten Titel holen.

Athen, 10. August: Dieter Baumann gewinnt bei der Leichtathletik-WM die Goldmedaille im 15- km-Dreikampf und wird schnellster Langstreckler der Welt. „Ja, gut“, analysiert der Schwabe das packende Rennen, „die fünf Kilometer Gehe ware scho harrt, aber beim Laafe ging's beschr und dr Gebresilasie hat vor den 5.000 Meter Sackhüpfe nur fünfzig Meter Vorsprung g'hett. Da wuscht'ich: desch is mei Renne.“

Lausanne, 4. September: Die Vollversammlung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) setzt die Altersgrenze für IOC- Präsidenten auf zehn Jahre posthum hinauf. „So ist gewährleistet, daß auch nach dem unwahrscheinlichen Fall meines Ablebens die Kontinuität gewahrt bleibt“, freut sich der in seinem Amt bestätigte Juan Antonio Samaranch.

Berlin, 6. September: Nachdem er bisher nur auf der Ersatzbank saß und schon damit gedroht hatte, Australier zu werden, schlägt beim WM-Qualifikationsspiel gegen Portugal endlich die große Stunde von Sean Dundee. Klinsmann kann noch nicht wieder gehen, nachdem er kürzlich Oliver Kahn im Dunkeln begegnet war, und Bobic muß wegen eines Zornesaderrisses pausieren. Vogts stellt Dundee als einzige Spitze auf, da ja ein 0:0 zur WM-Teilnahme reicht. Zehn Minuten vor Anpfiff stellt sich jedoch heraus, daß Dundee keinen deutschen Paß besitzt. „Den habe ich vorsichtshalber nicht abgeholt“, gesteht der Karlsruher kleinlaut, „man soll sich schließlich nicht zu früh festlegen.“ Vogts gerät in Panik und stellt Sammer als Mittelstürmer auf. Der schießt zwar vier Tore, fehlt aber hinten. Das deutsche Team verliert 4:5 und muß in die Relegation.

Budapest, 26. Oktober: Ein strahlender Axel Schulz holt sich durch einen Sieg über den Bulgaren Trifon Iwanow die Goldmedaille bei der Box-Weltmeisterschaft der Amateure. Noch im Ring werden ihm zahlreiche Profiverträge angeboten, doch der Oderaner lehnt ab: „Dazu fühle ich mich noch nicht reif genug.“ Trainer Manfred Wolke: „Wir werden den Jungen ganz vorsichtig aufbauen: noch zwei, drei Jahre Amateur, ein paar WM-Kämpfe bei den Profis und dann schlagen wir richtig zu.“

Hannover, 30. November: Mit begeistertem Jubel wird der Hannoveraner Pete Sampras beim Davis- Cup-Finale gegen die USA empfangen, verliert aber beide Einzel, weil er dauernd damit beschäftigt ist, Boris Becker, der eindeutig weniger Applaus erhält, die Zunge herauszustrecken. Das Publikum bekommt davon nichts mit, weil es mit seiner permanenten Ola vollkommen ausgelastet ist, und feiert Sampras nach dem von Becker gegen Agassi sichergestellten 3:2 hartnäckig als Matchwinner. Bei der anschließenden Pressekonferenz erklärt ein verbitterter Boris Becker, daß er nun Spanier werde: „Vielleicht kann ich mich so auf Sand verbessern.“

München, 10. Dezember: Im Langzeitstreit zwischen der Deutschen Eishockey-Liga (DEL) und dem Deutschen Eishockey-Bund (DEB) kommt es endlich zu einer Übereinkunft. Kernpunkt: Beide Organisationen lösen sich auf. Allerdings können sich die Parteien nicht einigen, wer anfängt. Für den 24. Januar 1998 wird eine Schiedsgerichtssitzung auf dem Münchner Flughafen zur Klärung dieser Frage einberufen.

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