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Magdeburger Totengesang

Der Hammer, der auf einen Amboß schlägt, war das Symbol des Maschinenbauers Sket. Nun sind die Hallen leer, und die Belegschaft wartet auf das Ende  ■ Von Annett Gröschner

Wenn ich als Kind abends von irgendeiner Reise kam, dann empfing mich die Stadt mit Dunst und Dunkelheit. Der einzige bunte Punkt war die Leuchtreklame „Magdeburger Schwermaschinenbau“ auf einem der beiden Punkthochhäuser am Beginn der damaligen Wilhelm-Pieck-Allee, die als Stalinallee erbaut in der Breite Ausmaße hat, als habe man Platz wie in Moskau. Der Krieg hatte mit Hilfe von Produkten des Schwermaschinenbaus die Schneise vom Bahnhof bis zur Elbe gebombt. Neben den Buchstaben ein Hammer, der auf einen Amboß schlägt: Symbol des Schwermaschinenbaukombinats Ernst Thälmann, auch heute noch kurz Sket genannt, obwohl außerhalb Magdeburgs kaum jemand weiß, was sich hinter den Buchstaben verbirgt. Wir sagten einfach Thälmannwerk. Heute mit dem ICE angekommen, verstellt ein Neubau den Blick auf die Leuchtschrift „Sket engeneering“, die nach der Kombinatsauflösung 1990 die alte Reklame ersetzt hat. Grellpink erleuchtet werben meterhohe Buchstaben für ein Kino namens Cinemaxx mit 2.800 Plätzen. Mehr als ein Prozent der Bevölkerung paßt dort auf einmal hinein, dabei kann die Stadt noch nicht einmal dieser Kultur viel abgewinnen. Seitdem die Festungsanlagen der preußischen Bastion ihren Sinn verloren hatten und das Dorf Buckau Ende des 19. Jahrhunderts mit seinen Industrieanlagen eingemeindet worden war, verdiente die Stadt an der Aufrüstung. Nach dem Krieg, als es vorbei war mit der Barockstadt an der Elbe, bekam sie den Zusatz „Stadt des Schwermaschinenbaus“. Spätestens seit dem 15. November 1996 ist das vorbei. An diesem Tag hat die Geschäftsführung die Gesamtvollstreckung für das Sket beantragt. Es war der Endpunkt des langsamen Sterbens einer Legende, das in der Stadt nur wenige wahrhaben wollten. Früher hatte fast jede Familie mindestens einen, der im Thälmannwerk arbeitete. Heute hat jede Familie mindestens einen Arbeitslosen und einen, der die Stadt auf Nimmerwiedersehen verlassen hat.

Am Morgen ist von den Nebenstraßen der Neustadt nur eine belebt, die, die zum Arbeitsamt führt. Auffällig ist, daß viele Männer in Gruppen zu viert oder fünft kommen. Sie tragen die alten Dederonbeutel mit den Stullenbüchsen und fallen auf in den Gängen, weil sie sich so laut unterhalten, als haben sie früher die Geräusche von Maschinen übertönen müssen, um sich zu verständigen. „Wir haben hier Pendler, die bis nach Stuttgart fahren, nur um zu arbeiten. Aber es gibt auch genug, die resignieren.“ Gudrun Pauer, die stellvertretende Leiterin der Presseabteilung, weiß, wovon sie redet, wenn es um Maschinenbau geht. Sie hat selbst jahrelang in der Planungsabteilung des Dimitroff-Werks gearbeitet, eine der 36.000 Arbeitskräfte der Maschinenbaubranche in Magdeburg. Vor der Wende hatte der Betrieb 4.000 Arbeiter und Angestellte, als es 1993 nur noch 66 waren, hat ihr Abteilungsleiter ihr nahegelegt, sich eine andere Arbeit zu suchen. Damals war sie 48 Jahre alt und hatte Glück. Sie konnte gleich im Arbeitsamt sitzen bleiben. „Ich bin ein Zahlenmensch“, sagt sie und holt die gegenwärtigen Arbeitslosenzahlen aus dem Ordner, denn der Computer aus der Nürnberger Zentrale ist mal wieder zusammengebrochen. Gudrun Pauer ist keine, die beschönigt. Seit Jahresbeginn haben sich im Arbeitsamtsbezirk Magdeburg mehr als 83.900 arbeitslos gemeldet. 18 Prozent der Magdeburger im arbeitsfähigen Alter sind ohne Beschäftigung. Insgesamt gab es in der Region im November 50.176 Arbeitslose und 9.978, die an Weiterbildungsmaßnahmen und Maßnahmen gemäß Paragraph 249 h teilnehmen. Gertrud Pauer zählt sie im Kopf zu den Arbeitslosen, im Ordner sind sie sorgfältig getrennt. Wenn es solche Maßnahmen nicht gäbe, „kämen die Leute hier doch gar nicht mehr über die Runden. Denn der Maschinenbau ist tot.“ Gudrun Pauer hält die Arbeitslosigkeit der Frauen persönlich für das größte Problem. 20 Prozent sind es in diesem Monat, die der Männer liegt „nur“ bei 14,4 Prozent. „Man kann nicht jede Kranführerin zur Hauswirtschafterin machen. Und die Männer denken ja immer, sie sind noch vor den Frauen dran, wenn es Arbeit zu verteilen gibt.“

Auf dem Alten Markt gegenüber dem Rathaus zeigt der Laden „Edithas Traumhochzeit“ den Frauen den Weg aus der Arbeitslosigkeit. Aber keine einzige Kundin ist im Geschäft, nur ein paar Männer stehen mit Plastebechern voll Glühwein vom Weihnachtsmarkt gegenüber feixend vor einer Brautpuppe, die außer einem Schleier nur mit Korsett und Strapsen bekleidet ist. „Unser größtes Problem ist die sinkende Geburtenrate“, sagt Oberbürgermeister Willy Polte, „der Anteil von Haushalten mit mehr als drei Personen in unserer Stadt beträgt nur noch 12 Prozent, das heißt, daß wir in diesem Jahr 33 Kindertagesstätten schließen müssen.“

Wenigstens hat man keine Wohnungsnot. Er sitzt aufgeräumt im Bischofssaal des Ratskellers unter dem Stadtwappen des Herzogtums Magdeburg und hat Journalisten zur Jahrespressekonferenz eingeladen, die er fast alle mit Namen kennt. „Unser Ziel ist, aus der Stadt die Wohn- und Arbeitsmetropole Sachsen-Anhalts zu machen. Dem sind wir in den letzten zwölf Jahren schon ein gutes Stück nähergekommen.“ Die Journalisten lächeln, denn der Oberbürgermeister merkt nicht, daß es höchstens sechs Jahre gewesen sein können, aber er hat sich so in seine Erfolge hineingesteigert, daß ihm der Fehler nicht auffällt. Wenig hat er zum Problem der Deindustrialisierung zu sagen. Der Anteil des produzierenden Gewerbes beträgt nur noch 16 Prozent. Tendenz fallend. „Wir warten, wir hoffen, daß wir einen Betrieb mit 1.000 Arbeitsplätzen bekommen.“ Ein paar Kilometer weiter südlich weiß das Sket nicht, wohin mit 1.800 Arbeitskräften.

Im S-Bahnhof Buckau sitzt um die Zeit, zu der früher der Schichtwechsel Tausende Leute durch die Bahnhofshalle zur Arbeit trieb, ein junger Mann unter dem seit Jahren geschlossenen Schalter schlafend in einer Lache aus Bier und Urin. In der Unterführung unter der Bahnstrecke, die das Wohngebiet Insel mit Buckau verbindet, hat jemand über die Aufforderung „Haltet die Anlagen sauber“ „Kämpft um Arbeit. KPD“ gesprüht. Fast jedes Wohnhaus ist bis zur zweiten Etage zugemauert. Hinter den zerbröckelnden Backsteinmauern des ehemaligen Betriebsgeländes breitet sich eine Steppe aus, in deren Fläche mehrere Fußballfelder Platz hätten. Hier war es früher so laut, daß man sein eigenes Wort nicht verstand. Früher, als wir Schülerinnen und Schüler noch in die Produktion geschickt wurden, um Gewinde in Verseilmaschinen zu schneiden, weil nie genug Arbeitskräfte da waren. Schon in den siebziger Jahren hatte das Sterben der Insel begonnen, als die Arbeiterwohngenossenschaft ihre Mitglieder mit Neubauwohnungen in der Schilfbreite und in Nord versorgte. Jetzt gibt es in der Sudenburger Straße noch zwei Geschäfte, einen Kopierladen und das Insel-Einkaufscenter.

Waltraud Köhler hat einen Teil der Regale ins Lager geräumt und vier Verkäuferinnen entlassen. Der Umsatz ist um ein Drittel zurückgegangen. „Aber Frau Giesebrecht“, sagt sie zu einer alten Frau, „das Portemonnaie tun wir aber mal ganz nach unten und machen die Tasche schön zu.“ „Ist sowieso nichts drin“, antwortet Frau Giesebrecht. „aber das wissen doch die Gangster nicht.“ Dann gibt's noch einen Spruch auf den Weg und der Laden ist leer. Die alten Frauen sind die treuesten Kundinnen. Waltraud Köhler hat viel Zeit, aus dem Schaufenster auf den Haupteingang des Sket zu schauen. Er ist wie ausgestorben. „Ich habe in den letzten zwei Jahren meinen Staatsbürgerkundeunterricht mit der Realität vergleichen können. Als hier im Mai 1994 auf dem Gelände die ersten Gebäude abgerissen wurden, wußte ich, daß das das Ende ist. Ich habe zu meinen Kunden gesagt, ihr seid nur gemeinsam stark, ihr dürft euch nicht auseinanderdividieren lassen. Aber sie haben nicht auf mich gehört. Jeder, der noch Arbeit hatte, hat das Maul gehalten, wenn der andere entlassen wurde.“ Damals kamen die Leute nach der Nachtschicht gleich in den Laden. Auch heute noch steht sie um drei auf, um um 6.30 Uhr den Laden zu öffnen und zwölf Stunden später wieder zu schließen. Und das sechs Tage in der Woche. „Wenn man an der Elbe steht und einen Stein ins Wasser wirft, dann bilden sich konzentrische Kreise. Der Stein, der hier fällt, ist das Sket, und mein Laden ist so ein Kreis; ich weiß bloß noch nicht, welcher. Wenn ich länger darüber nachdenken würde, dann könnte ich mich ja gleich eingraben.“

Karl-Heinz Gärtner* ist schon zu Hause. Vom Dach seines Hochhauses kann man die Steppe, die mal das Werk war, überblicken. Heute ist er froh, daß er damals, als die Werkswohnungen verlost wurden, eine in der zweiten Etage beziehen mußte. Er könnte den Anblick nicht ertragen. Die Hallen wurden von denen abgerissen, die darin gearbeitet haben, manche von ihnen 35 Jahre. Danach waren sie so überflüssig wie die Steine. Als Karl-Heinz Gärtner mit seiner Familie 1976 die Dreiraumwohnung als Auszeichnung bekam, war das Haus zu 90 Prozent von Thälmannwerkern bewohnt. Heute ist er der einzige, der noch das Arbeitszeug mit der Aufschrift Sket trägt, und wenn er mittags mal schnell nach Hause fährt, dann schlägt ihm der eine oder andere Rentner aus dem Haus auf die Schulter und fragt nach dem Werk. Die Jüngeren schweigen. Der Stolz darauf, Sketler zu sein, ist mit den Entlassungen geschwunden. Jetzt hat er fast ein schlechtes Gewissen, noch Arbeit zu haben. Denn für die Belegschaft war es völlig durchsichtig, nach welchen Kriterien entlassen wurde. „Es hieß dann, der und der soll mal ins Büro kommen, und dann wußte man schon, der wird jetzt entlassen. Ich selbst bin seit 28 Jahren dort. Bis jetzt habe ich sechs Großangriffe gegen das Werk überlebt. Was nach dem 1. Januar kommt, weiß ich nicht. Ich weiß noch nicht mal, ob am 1. Januar wirklich die Gesamtvollstreckung eintritt. Zwischen uns an der Basis und denen da oben herrscht Funkstille.“ Die da oben sind die BvS, die Geschäftsfühung und der Sequestor Wutzke. Die neue Halle, in die er mit seinem Betriebsteil ziehen sollte, ist leer geblieben. „Wir durften damals sogar mitentscheiden, wie sie aussehen soll, dann haben sie 20 Millionen verbaut, und die letzten vier haben sie sich dann sparen können.“ Keines der Sanierungskonzepte, die es für das Sket gab, ist aufgegangen. Der Markt war längst aufgeteilt, als die Magdeburger sich am Tag vor der Währungsunion die Nasen an den Schaufenstern platt drückten im Angesicht der schönen, neuen Waren. Davon will heute keiner mehr etwas wissen. „Kurz nach der Währungsunion haben wir noch geglaubt, alles wird besser. Plötzlich waren die Ersatzteile da, und die Arbeit wurde effektiver. Und jetzt stehen wir da wie Opferlämmer, die zur Schlachtbank gehen.“

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