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Unterschiedliche Neigungswinkel

■ Zwischen Kunst und Sozialarbeit: „Das andere Publikum“ ist eine kritische Bestandsaufnahme aktueller Positionen im deutschen Kinder- und Jugendtheater

Sie heißen Eldvin, Jeda, Kamiel oder Iphigenie. Die Heldinnen und Helden des neuen deutschen Kinder- und Jugendtheaters kommen von überall her und sind im Hier und Jetzt zu Hause. Oder in einer unbestimmten, märchenhaften Vergangenheit, die im Theater natürlich ebenfalls Gegenwart werden will. Kaum etwas von dem, was heute in der Welt vorgeht, bleibt unseren lieben Kleinen verschlossen: Sei es der Krieg in Bosnien oder die alltägliche Gewalt auf der Straße – die Zeiten, in denen man meinte, Kinder schonen zu müssen, sind vorbei.

„Die wissen einfach mehr von der ganzen Scheiße, als man denkt“, sagt der Regisseur Thomas Heise, der im Berliner Ensemble Texte von Michael Wildenhain mit Schülern inszenierte. Auch in ästhetischer Hinsicht traut man Kindern mittlerweile einiges zu: Die Texte werden zunehmend poetischer und mehrdeutiger, die Spielweisen differenzierter. Aber erübrigt sich dann nicht über kurz und lang die ganze Chose? Braucht man wirklich noch ein Spezialtheater für Kinder?

„Das andere Publikum“ – fast trotzig behauptet der Titel dieses Buches eine Differenz des Kinder- und Jugendtheaters. Ältere und jüngere Experten debattieren in der Publikation des Deutschen Kinder- und Jugendtheaterzentrums über Ursprünge, Chancen und Grenzen ihres Theaters – eine auch qualitativ heterogene Angelegenheit. Wer sich aber nicht davon stören läßt, daß einige Beiträge offensichtlich allzurasch verfaßt und auch nur im Vorbeigehen redigiert wurden, entdeckt ein Netz unterschiedlicher Ansätze, das durchaus als Bestandsaufnahme durchgehen kann.

Anlaß für die Publikation war ein Modellprojekt mit dem schönen Namen „Erweiterung der Kinder- und Jugendtheater zu kommunalen Kulturzentren“, das nach 1992 im deutschen Osten für die Öffnung der Kulturtempel sorgte. Der Grundgedanke: Die Theater, denen die Subventionen weggebrochen waren, und die Jugendlichen, deren Leben sich im Umbruch befand, zu beider Nutzen zusammenzubringen. Ein fast schon schal gewordener Begriff, das „Theater als Erlebnisraum“, erhielt so unversehens neue Bedeutung: „Hexenfeste“ in Berlin-Hellersdorf, öffentliche Proben in Neubrandenburg, Seminare und Rahmenprogramme allerorten – das neue deutsche Kinder- und Jugendtheater versteht sich als „Mitmachtheater“ in einem umfassenden Sinn.

Ein Miteinander, das nicht immer freudvoll ist. In seinem erfreulich polemischen Beitrag schreibt Frank Beuth vom Weiten Theater in Hellersdorf von den Berührungsängsten des Ensembles mit den Bewohnern der berüchtigten Plattenbausiedlung im Ostberliner Norden und von ihrer Angst, immer mehr in die Sozialarbeiterschiene zu rutschen. Der Ruf „Theater muß Theater bleiben“ wird hie und da und in unterschiedlichen Varianten laut und zeigt, daß die Öffnung der Kunst zur Welt auch ihre Grenzen hat.

Ständig zwischen Kultur- und Sozialarbeit, Pädagogik und Kunst zu pendeln, verlangt Ausdauer und vor allem die Fähigkeit, Kindlichkeitsklischees hinter sich zu lassen. Hier knüpfen die meisten aktuellen Projekte an die Tradition nach 68 an, als Grips und Konsorten Kinder nicht länger als irgendwie süße, aber defizitäre Wesen betrachteten, sondern sie ernst zu nehmen begannen. „Witz (und Grips) fürs Sich-Wehren“ zu vermitteln, ist bis heute der Anspruch der Grips-Macher.

Im ständigen Balanceakt zwischen ästhetischer Innovation und sozialem Engagement haben sie sich zweiterem zugewandt. Zwischenlösungen mit unterschiedlichen Neigungswinkeln sind die Regel zwischen Flensburg, Nürnberg und Berlin, der „weitverbreitete Rassismus“ von Schauspielern gegen Kinder, den der Dramaturg Melchior Schedler vermutet, doch wohl eher die Ausnahme. Wer allerdings sein „inneres Kind“ erfolgreich verdrängt, für den kommt das Spielen für Kinder womöglich einer Degradierung gleich. Eine Gefahr vor allem an großen Häusern, die Kindertheater quasi als Zusatzleistung anbieten, was sie sich lieber gleich sparen sollten. „Solange Kinder- und Jugendtheater den Machern selbst nicht geheuer ist, bleibt es in dem, was es tut, tot.“ (Frank Beuth)

Theater für Kinder läßt sich nicht anordnen. Auch wenn Jugendgewalt und Ausländerfeindlichkeit zweifellos drängende Probleme sind – wenn Theater seine Legitimation ausschließlich aus der Tagespolitik herleitet, wird es allzuleicht zur Manövriermasse soziokulturell engagierter Lokalpolitiker. Davor schützt freilich auch ein künstlerischer Anspruch nicht. Zumal es mit dessen Umsetzung auch nach Ansicht der Macher derzeit nicht zum besten steht: Zu brav, weil zu gut gefüttert, finden das deutsche Kinder- und Jugendtheater die einen und reden gar vom „neuen Biedermeier“. Ein breites Angebot, in dem das qualitativ Herausragende und das ästhetisch Spezifische zu verschwinden drohen, beklagen die anderen.

Aber das deutsche Kinder- und Jugendtheater wäre nicht, was es ist, wenn zur Kritik am Status quo nicht auch eine gehörige Portion Optimismus gehörte. „Ich glaube“, schreibt der Kindertheaterautor und -regisseur Horst Hawemann deswegen, versonnen in die Zukunft blickend, „daß das Theater für und mit Kindern seine wichtigste Leistung noch vor sich hat ...“ Sabine Leucht

Annett Israel, Silke Riemann (Hg.): „Das andere Publikum. Deutsches Kinder- und Jugendtheater“. Henschel Verlag, 288 Seiten, 38 Mark

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