piwik no script img

Erschreckendes Ausmaß häuslicher Gewalt

■ Schon rund 1.000 Ermittlungsverfahren in gut drei Monaten

Meist beginnt es – bei Licht besehen – mit einem Streit um Nichtigkeiten. Oft spielt auch Alkohol eine Rolle. Plötzlich eskaliert die Situation. Der Mann schlägt zu und droht seiner Frau: „Ich bring dich um!“ Die Erste Oberamtsanwältin Heidi Kleine ist immer wieder erschüttert, wie schnell Lebens- und Ehepartner Schläge austeilen und wie leicht es zu Gewalttaten kommt.

Seit dem 1. September leitet Kleine das neugeschaffene Sonderdezernat der Berliner Amtsanwaltschaft zur Bekämpfung häuslicher Gewalt. Inzwischen haben die zehn Mitarbeiter des Dezernats schon rund 1.000 Ermittlungsverfahren eingeleitet. 600 davon führten entweder zur Einstellung des Verfahrens oder zur Anklageerhebung. In beschleunigten Verfahren, so Heidi Kleine, erfolgten schon über ein Dutzend Verurteilungen zu Geld- und Bewährungsstrafen. Die große Zahl der Verfahren empfindet Kleine als „erschreckend“. Bei der Einrichtung des Sonderdezernates war man von 1.000 Fällen im Jahr ausgegangen. Jetzt könnte es sogar zu 4.000 Verfahren im ersten Jahr kommen. Dabei gibt es gerade auch im Bereich häuslicher Gewalt ein „enormes Dunkelfeld“. Experten schätzen, daß nur jedes achte bis zehnte Delikt dieser Art angezeigt wird.

Dabei geht es zumeist um Hausfriedensbruch, Beleidigung, zum Teil gefährliche Körperverletzung, Bedrohung, Sachbeschädigung und Nötigung.

Zu einer Verurteilung kann es allerdings nur kommen, wenn das Opfer auch aussagt, da es meist keine Zeugen gibt. Viele Frauen schweigen aber, weil sie nicht glauben, daß Polizei und Justiz helfen können oder weil sie befürchten, daß die Situation sonst noch unerträglicher wird.

Manche Frauen ziehen vor Gericht auch ihre Anzeigen gegen den prügelnden Ehemann zurück, oder sie berufen sich auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht. Im Hintergrund, interpretiert Kleine, schwingt da die Hoffnung mit, daß so etwas nicht wieder vorkommt oder aber auch der Selbstvorwurf, sie hätte ihn ja gereizt.

Ein Sonderdezernat wie das in Berlin eingerichtete gibt es bisher nur in Bremen. Anstoß gab die Justizministerkonferenz vom November 1994. Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit (SPD) bezeichnete die Neuordnung als einen „wesentlichen Schritt, um der Gewaltbereitschaft im häuslichen Alltag Einhalt zu gebieten“ – nicht zuletzt auch im Interesse der Kinder, die nicht in gewaltgeprägter Atmosphäre aufwachsen sollen. Wolf-Rüdiger Neurath, ADN

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen