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Traumschule des Sozialismus

Vom Multikulti-Experiment zur Kaderschmiede: Das Schussew-Museum in Moskau zeigt eine Ausstellung über die Karl-Liebknecht-Schule  ■ Von Barbara Kerneck

„Die Geschichte der DDR hat wahrscheinlich in der Karl-Liebknecht-Schule begonnen“, sagte kürzlich der Publizist und Sowjetunion-Experte Wolfgang Leonhard im Spiegel-Interview. Die deutschsprachige Moskauer Lehranstalt absolvierte auch Markus Wolf, Exchef des DDR-Abwehrdienstes und einst stellvertretender Minister für Staatssicherheit. Er hat seine Schuljahre in dem Erinnerungsband „Die Troika“ beschrieben. Zu seinen MitschülerInnen gehörten Werner Eberlein, Bezirksleiter der SED in Magdeburg; Stephan Deriberg, Mitglied des Zentralkomitees der SED; Peter Florin, stellvertretender Außenminister der DDR; Irmgard Sikert, DDR-Konsulin in Kiew; und Professor Moritz Mebel – als Urologe ebenfalls ein quasi natürliches Mitglied des von Altherrenleiden geplagten ZK. Schüler der Liebknecht-Schule waren außerdem der Filmregisseur Konrad Wolf, der Bruder von Markus Wolf, und Jan Vogeler, Sohn des Malers und einstigen „Worpsweders“ Heinrich Vogeler, Philosophieprofessor am Institut für Gesellschaftswissenschaften des ZK der KPDSU.

Das Goethe-Institut Moskau widmet der 1924 gegründeten Karl-Liebknecht-Schule dieser Tage gemeinsam mit dem Memorialmuseum deutscher Antifaschisten in Krasnogorsk eine Ausstellung im Moskauer Schussew-Museum, „Die Schule unserer Träume“. Was den Namen der Ausstellung betrifft, so kann man zumindest behaupten, daß sich für die Liebknecht-SchülerInnen ein Kindertraum erfüllte: Die Erwachsenenwelt nahm sie ernst. Bisweilen todernst. Viele von ihnen endeten in den Stalinschen Konzentrationslagern. Die Ausstellung dokumentiert jene Zeit, als die Schicksale dieser Opfer noch mit denen jener AbsolventInnen parallel liefen, die später Karriere machten.

Die im Schussew-Museum gezeigten Dokumente begleiten Kinderkleidchen, Unterrichtsmittel und Bücher aus dem 19. Jahrhundert. Denn deutsche Familien und deutsche Schulen hatte es in Moskau seit dem 17. Jahrhundert gegeben – mit einer Unterbrechung im Ersten Weltkrieg. Die Eröffnung der Lehranstalt knüpfte an diese Tradition an. Gleichzeitig sollte sie den Familien der eingereisten deutschen Facharbeiter und Ingenieure dienen.

Hunderttausende von ihnen waren während der Weltwirtschaftskrise als Gastarbeiter in die UdSSR geströmt. Bald sprach sich herum, daß diese Schule im Hin und Her der pädagogischen Experimente der Sowjetunion der zwanziger Jahre versuchte, den traditionellen deutschen Bildungsnormen gerecht zu werden. Dies brachte ihr Kritik von oben ein. „Die Lehrer nennen die Schülerinnen ,Fräulein!‘, die Theaterstücke der deutschen Schule sind ihrem Inhalt nach veraltet“, kritisierte die städtische Abteilung für Volksbildung. Daß sich hier der Brauch, Poesiealben zu führen, bis zum Ende unter den Mädchen als unausrottbar erwies, erregte besonderes Ärgernis. Die spezifische kulturelle Atmosphäre der Schule bescherte ihr aber von Anfang an auch viele SchülerInnen nichtdeutscher Nationalität, vor allem aus russisch-jüdischen Familien.

Moskau war in den zwanziger Jahren nicht das uns aus Breschnews Zeiten bekannte, weltabgeschnittene Mammutdorf. Damals fühlte sich diese Stadt zu Recht als wahre Metropole des internationalen Sozialismus. Das Moskauer Kulturleben huldigte dem Motto: Lieber arm und interessant als reich und kommerzialisiert. Neben chinesischen Heimatvereinen gründeten sich jüdische Kulturgemeinden und florierten Zigeunertheater. Durch die Ausstellung Moskau–Berlin ist noch in frischer Erinnerung, wie die damals noch nicht lange zurückliegende revolutionäre Explosion im sozialen Bereich und eine darauffolgende Kulturrevolution beide Länder verbanden.

Anfang der dreißiger Jahre war es in Rußland dann aus mit den pädagogischen Experimenten. An die Stelle des Lernens in Brigaden trat die Trichtermethode. Gleichzeitig setzte nach 1933 ein nie gesehener Zustrom ausländischer SchülerInnen ein – Kinder von Flüchtlingen vor dem Faschismus aus Deutschland, Ungarn, Österreich und Spanien. Die Zahl der Liebknecht-SchülerInnen wuchs auf fast fünftausend. Die Zugewanderten fügten sich ohne Murren in die vorgefundene Ordnung, auch wenn ihnen dies nicht immer leichtfiel. Aus Memoiren der Emigrantenkinder wissen wir, daß die Überschreitung der Grenze der Sowjetunion für sie ein erhebendes Erlebnis darstellte. Zum erstenmal betraten sie den Boden des Landes, dessen Hymne die Internationale war.

Ihr Klassenbewußtsein – im wahrsten Sinne des Wortes – sollte sich nun auch an sauber geführten Aufsichtsheften erweisen, die allwöchentlich von den Eltern gegengezeichnet wurden. Die Sommererholungslager in Kaluga und auf der Krim waren nach nahezu militärisch-hierarchischen Gesichtspunkten organisiert. Als Ausgleich zum Disziplinardruck der Schule schafften sich auch die Liebknecht- Zöglinge das übliche Ventil der kleinen, nicht besonders bösartigen Streiche. Da malte man der Genossin Bauer mit Kreide eine Fratze auf den Lehrerstuhl, damit diese sich dann auf dem dunklen Hinterteil des Rocks abzeichnete. Ein wegen Insubordination auf den Balkon hinausgeschickter Schüler rutschte die Regenrinne hinab und kam zur allgemeinen Begeisterung seiner KlassenkameradInnen zur Tür wieder hinein. Und wenn die älteren SchülerInnen das Sommerlager in Kaluga allein abbauen durften, nachdem alle LehrerInnen und die Kleinen wieder zurückgefahren waren, fühlten sie sich als HerrInnen der Welt.

Die antifaschistische Gesinnung und die Begeisterung für den internationalen Kampf der Arbeiterklasse brauchten diesen jungen Menschen nicht aufgezwungen zu werden, sie ergaben sich aus ihrer Biographie. Täglich vermittelte man den Liebknecht-SchülerInnen, daß sie an dem entscheidenden „letzten Gefecht“ um die Weltherrschaft des Proletariats teilnähmen. Jährlich marschierte bei den Demonstrationen zum Ersten Mai der Liebknecht-Spielmannszug an der Spitze der deutschen Kolonne, ausgerüstet mit Flöten und Trommeln von daheim. Und wenn ihnen dann Väterchen Stalin selbst seinen besonderen Gruß zuteil werden ließ, fühlten diese Mädchen und Jungen, daß sie nicht nur etwas Besonderes waren, sondern daß sie auch Besonderes leisteten.

Die Älteren arbeiteten in der Roten Hilfe mit, einer Organisation, die verfolgte KommunistInnen im Ausland und deren Familien unterstützte und damals weltweit zehn Millionen Mitglieder zählte. Abends gingen sie in den „Klub der ausländischen Arbeiter“ in der Herzen-Straße Nr. 6, wo sie sich mit Opfern des deutschen Faschismus oder SpanienkämpferInnen trafen – oder Foxtrott tanzten. Aber während diese SchülerInnen sich auf die internationale Kultur zubewegten, kam diese ihnen auch entgegen. Mitglieder der Komintern, Wilhelm Pieck und Fritz Heckert, hielten in der Schule Vorträge. Schriftsteller wie Erich Weinert, Anna Seghers, Willi Bredel, Friedrich Wolf und Lion Feuchtwanger diskutierten mit ihnen. An der Schule wurde die Arbeiter Illustrierte Zeitung (AIZ) mit den Fotomontagen von John Heartfield verteilt. Ernst Busch leitete monatelang den Schulchor, und für alle, die halbwegs singen konnten, war dies offenbar eine besonders vergnügliche Zeit.

Überhaupt zeigt die Geschichte dieser Schule, daß für SchülerInnen die Persönlichkeiten ihrer LehrerInnen allemal wichtiger sind als die Schulpolitik. Alle noch lebenden Liebknecht-SchülerInnen sind davon überzeugt, daß „unsere LehrerInnen“ besser waren als die an den anderen Moskauer Schulen. Es waren keine DurchschnittspaukerInnen, die hier unterrichteten, sondern antifaschistische ImmigrantInnen, die vorher oft anderen intellektuellen Berufen nachgegangen waren. Ihr Unterrichtsmaterial stellten sie mit viel Phantasie frei zusammen. Doch immer schärfer ruhte auf dieser, von potentiell verdächtigen und unberechenbaren Elementen überquellenden Institution das Auge der Obrigkeit.

Schon in den Vorkriegsjahren „verschwanden“ 25 dieser PädagogInnen spurlos. 1936 wurden 40 Mütter beziehungsweise Väter von SchülerInnen verhaftet. Die jungen Leute vermuteten dahinter erst einmal nur „Irrtümer“. Wer von ihnen vor dem Faschismus hierher geflohen war, ahnte noch nicht, daß er vom Regen in die Traufe geriet.

Doch zunächst schlossen sie sich noch enger zusammen. Max Albam, Primus einer der Abschlußklassen, nennt es rückblickend ein „Pestgelage“. Während seine Mutter bereits verhaftet war und der Vater im Ausland zurückblieb, trafen sich die MitschülerInnen bei ihm zum Pauken fürs Examen, kochten und tanzten gemeinsam und imitierten deutsche Schlagerstars. „Wir wußten nicht, was es heißt, einsam zu sein“, kommentiert einer seiner damaligen Mitschüler heute: „Davor schützte uns unser tiefer Internationalismus. Wir waren eine Familie, ganz gleich, was mit unseren Angehörigen geschah, ob wir Russen waren, Deutsche, Juden, Ungarn oder Spanier.“

Im Januar 1938 fiel der ZK- Beschluß „Zur Reorganisierung der nationalen Schulen“, die darin „Herde der bürgerlich-nationalistischen antisowjetischen Erziehung“ hießen. Auch die Liebknecht-Schule wurde geschlossen. Damals wurde der Wechsel von einer multikulturellen Sowjetunion zum grauen Filz der Einheitsepoche besiegelt. Bei Ausbruch des Krieges, als alle Deutschen in Rußland als potentielle VerbrecherInnen behandelt wurden, entsann sich die NKWD auch der einstigen Liebknecht-SchülerInnen.

Es nimmt Wunder, daß in der Ausstellung nicht einmal der Versuch unternommen wird, eine Übersicht über ihre Lebenswege zu bieten. Einer von ihnen, Henry Ralph Lewenstein, traf in Lagern und Etappengefängnissen auf die Spuren von etwa einem Dutzend seiner ehemaligen MitschülerInnen – von denen viele nicht überlebten. Andererseits – so meint Lewenstein –, sei es erstaunlich, wie wenige jener Liebknecht- Zöglinge im Krieg fielen, die auf sowjetischer Seite an der Front Dienst taten. Die Mehrheit von ihnen wurden als ÜbersetzerInnen eingesetzt. Jene Schule, deren Besuch sie zur sozialen Risikogruppe abgestempelt hatte, gab ihnen mit Wissen und Sprachkenntnissen auch Werkzeuge in die Hand, um sich der Bedrohung zu entziehen.

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