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Lob des Winters

Verzeiht, ihr warmen Frühlingstage,

Ihr seid zwar schön, doch nicht vor mich.

Der Sommer macht mir heiße Plage,

Die Herbstluft ist veränderlich;

Drum stimmt die Liebe mit mir ein:

Der Winter soll mein Frühling sein.

(...)

Der Winter zeigt an seinen Gaben

Die Schätze gütiger Natur,

Er kann mit Most und Äpfeln laben,

Er stärkt den Leib und hilft der Kur,

Er bricht die Raserei der Pest

Und dient zu Amors Jubelfest.

(...)

Die Zärtlichkeit der süßen Liebe

Erwählt vor andern diese Zeit;

Der Zunder innerlicher Triebe

verlacht des Frostes Grausamkeit;

Das Morgenrot bricht später an,

Damit man länger küssen kann.

(...)

Das Eis beweist den Hoffnungsspiegel,

Der viel entwirft und leicht zerfällt;

Ich küsse den gefrornen Riegel,

Der mir Amanden vorenthält,

So oft mein Spiel ein Ständchen bringt

Und Sait und Flöte schärfer klingt.

(...)

Der Winter bleibt der Kern vom Jahre,

Im Winter bin ich munter dran,

Der Winter ist ein Bild der Bahre

Und lehrt mich leben, weil ich kann;

Ihr Spötter redet mir nicht ein;

Der Winter soll mein Frühling sein.

Johann Christian Günther (um 1715)

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