: Massive mit Heiligenschein
■ Der Fotograf Stefan Kiess transformiert Architektur in Skulpturen Benjamin Geisslers Dokumentarfilm über ein vergessenes Sizilien
„Nicht die Bohne“ interessiert sich der Fotograf Stefan Kiess für die Konzepte der Architekten, deren Gebäude er fotografiert. Mit einem Superweitwinkel und einem Teleobjektiv sowie mit Infrarotfilmen erzeugt er neue Proportionen und eine erhabene Aura, die das eigentliche Objekt aber nicht diskreditieren. Ganz im Gegenteil: Selbst so schlechte Architektur wie der Fleethof an der Stadthausbrücke erhält durch die extreme Verschlankung und den malerischen Bildaufbau eine Seele, die man vorher nicht wahrnehmen konnte.
Kiess, der bei seinen Stadtstreifzügen die Mystik von Architektur aufspüren möchte, findet diese in der „Grafik des Gebäudes“. Und mit dieser spezifischen Perspektive, mit der sich die Qualität von Architektur sicherlich nicht erfassen läßt, kann er aus schlichten Strukturen am meisten zaubern. So ragen Lüftungsschächte neben dem Frankfurter Fernsehturm, die von diesem 150 Meter entfernt sind, auf, als seien sie 150 Meter hoch, und Ungers Hamburger Kunsthallenneubau drängt sich zu den Proportionen eines Aktenschrankes – der er ja vielleicht auch ist. Struktur und Textur, gezwängt in stürzende Linien und verdrehte Perspektiven, verwandeln sich durch Kiess– Objektiv in eine Erzählung von Skulpturen, denen man Charakter zusprechen möchte.
Die Ausstellung Architecture Transformed im Stilwerk forum widmet sich ausschließlich den beiden Städten, in denen der 41jährige Fotograf in den letzten Jahren gelebt hat: Frankfurt und Hamburg. Aufgebaut in zwei Blickrichtungen sieht man von Westen nur die Hansestadt, von Osten nur Mainhattan. Wobei die eklatanten Unterschiede dieser Städte durch Kiess' Entproportionierung wenn nicht verschwinden, so doch nur zu „bildhauerischen“ Unterschieden zweier Werkgruppen werden. Der Frankfurter Messeturm, losgelöst vom städtischen Raum, und die Alsterschwimmhalle in ihrer betonten Strukturhaftigkeit wirken so wie zwei verschiedene Plastiken eines Künstlers: abstrakt, verschlossen, massiv und – tatsächlich mystisch. Letzteres hätte man zumindest der Frankfurter Granitrakete des deutsch-amerikanischen Gurkenkönigs Helmut Jahn nie zugetraut.
Auch die konsequente Schwarz-Weiß-Haltung unterstützt das Figürliche seiner Arbeit, wobei der kontrastfälschende Einsatz der Infrarotfilme dafür sorgt, daß doch einige Objekte plötzlich einen Heiligenschein bekommen. Kiess', der sich selbst als „Misanthrop“ bezeichnet (was er bat, nicht zu schreiben, weil es ja wohl sicher nicht stimmt), schafft mit seiner menschenleeren Formhaftigkeit von Architektur eine sehr subjektive Neuerfindung von Stadt für den rein kontemplativen Gebrauch. Und das gelingt ihm mit Feingefühl. Till Briegleb
Stilwerk, Große Elbstraße 68, bis 26. Januar
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