: Kraftmeier auf dünnem Eis
■ Bundesgerichtshof gegen die Bundesanwaltschaft
Christoph Seidler bleibt frei. Nicht der Tenor des BGH-Beschlusses kann, nach allem, was in den vergangenen Monaten bekannt wurde, überraschen. Vielmehr beeindruckt der trockene Ton, mit dem die hohen Richter die Kollegen von der Bundesanwaltschaft abwatschen.
Siegfried Nonnes Erzählungen, betont der 3. Strafsenat, seien nach wie vor das einzige Beweismittel dafür, daß Christoph Seidler jemals Mitglied der RAF und als solches 1989 auch Mörder Alfred Herrhausens war. Und dieses Beweismittel trägt nicht. Von Anfang an war der Bundesanwaltschaft bekannt, daß Nonne seinen Ansprechpartnern beim hessischen Verfassungsschutz zeitgleich mit dem Herrhausen- Märchen eine zweites erzählte, das Seidler ebenfalls in der Rolle des Mordbuben sah. Ein reines Phantasieprodukt, wie sich schnell herausstellte. Für die Bundesanwaltschaft jedoch kein Grund, an Nonnes Glaubwürdigkeit zu zweifeln, sondern ein störendes Detail, das umgehend „geheimgestempelt“ wurde. Diesen Vorgang als Kunstfehler zu bezeichnen, wäre ein Euphemismus. Die Bundesanwaltschaft hat auch in RAF-Verfahren be- und entlastende Indizien sorgfältig zu wägen. Sie tut es nicht, und sie will es nicht. Dies ist nicht nur ein juristischer, sondern auch ein politischer Skandal. Sollte Generalbundesanwalt Kay Nehm Seidler trotz allem anklagen, könnte er sich rasch selbst auf der Anklagebank wiederfinden.
Nach dem BGH-Beschluß hat die Bundesanwaltschaft alle Veranlassung über ihr Selbstverständnis in der Auseinandersetzung mit der RAF und ihrem Umfeld nachzudenken. Es geht um eine rechtsstaatliche Banalität: Bei der Verfolgung politischer Straftaten gelten die gleichen Grundsätze wie überall sonst. Was die Bundesanwälte antreibt, ist ersichtlich mehr als die abgeklärte Aufklärung politisch motivierter Straftaten. Und Seidler ist kein Einzelfall. Auch in den Verfahren gegen Birgit Hogefeld und Monika Haas präsentieren sich die Oberankläger aus der Herrenstraße als Kraftmeier auf dünnem Eis. Daß der Professor im Bonner Justizministerium das Karlsruher Treiben wie ein unbeteiligter Zuschauer vom Logenplatz betrachtet, ist längst kein Zeichen innerstaatlicher Liberalität mehr. Es ist ein Zeichen von Desinteresse. Gerd Rosenkranz
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