Sorge um den Menschen im neuen Deutschland

■ Janin Gottschalk, seit 1963 „in der Partei“, weint der realsozialistischen Praxis der DDR keine Träne nach. Aber an „die Idee“ glaubt die heute 63jährige nach wie vor

Janin Gottschalk ist nicht zum Parteitag delegiert. Sie ist dennoch nach Schwerin gefahren. Aus Anhänglichkeit. „Ich bin ja seit 1963 in der Partei.“ Da legt man nicht so schnell die alten Kleider ab, zumal die Genossin aus Nauen im Landkreis Havelland „nie gezwungen“ wurde, sich den „Idealen des Sozialismus“ zu verschreiben.

Mit der realsozialistischen Praxis hat es inzwischen sein Bewenden, an die Idee aber glaubt sie nach wie vor. Jetzt steht sie in der letzten Ecke des mit Verkaufs- und Agitpropständen zugestellten Foyers – als Vertreterin der AG Polittourismus. Vor sich hält die 63jährige das Cottbuser Blatt, die „Zeitung für Demokratie und Alltagssorgen“. In ihm steht zu lesen, was im Osten abgewickelte Menschen fühlen – eine Mischung aus Trostlosigkeit und Langeweile, der nur mit „Angaschemang“, wie sie sagt, beizukommen ist.

Die gelernte Krankenschwester wirkt trotz ihres Alters agil. Sie hat nichts von einer Oma, obwohl sie schon mehrere Enkel hat. Der DDR träumt sie „bei Gott“ nicht hinterher. So sehr sie von der Erosion ihres Landes überrascht wurde, so gerecht findet sie inzwischen, daß passierte, was „passieren mußte“. Denn „wer immer nur auf der Linie bleibt, nicht nach links und nicht nach rechts guckt“, sagt sie, „der sieht, wie es immer schiefer wird“. So verschwand ihr Land einfach von der Landkarte.

Aber nicht aus ihrer Erinnerung, in der sich Dankbarkeit findet, ihr Leben in der DDR gelebt zu haben. „Ich bin 1963 nicht in die Partei gezwungen worden“, beteuert sie. Erziehung und „Verantwortung“ im Geiste des Antifaschismus – „dafür muß sich ja niemand schämen“.

Sie ist schon etwas irritiert über das Parteitagschaos, das es in der SED einfach nicht gab. „Da gingen wir nur auf den Korridor, wenn der Tagungsleiter es erlaubte.“ Jetzt, „daran muß man sich gewöhnen“, da rennen die Leute „einfach so“ hin und her. „Wir waren ja sehr diszipliniert.“ Aber sie sagt auch, wenn auch ein wenig gegen ihre Überzeugung, daß Streit dem Menschen wesensfremd ist: „Vielleicht war das nicht immer gut so.“

Um nicht gänzlich den Boden unter den Füßen zu verlieren, kam ihr die AG gerade recht. Mit ihr arbeitet sie die Kränkung ab, die ihr 1991 widerfahren ist. Da war sie 57 Jahre alt. „Ich hätte noch drei Jahre weiterarbeiten wollen“, aber in ihrem Krankenhaus hat man sie ausgesiebt. „Es ist furchtbar für einen Menschen, wenn er auf einmal nicht mehr gebraucht wird“, sagt sie, die in der SED nie Karriere machen, aber doch Teil der Sinnstiftungsmaschine sein wollte. Am Arbeitsplatz, sagt sie, „war das doch wie in einer Familie, so eine Art Geborgenheit“.

Vorbei. Sie behilft sich nun mit Reisen, „Multikulti, das hat uns doch gefehlt, die Neugier“. Zum Humanité-Pressefest nach Paris, vielleicht mal nach Marokko, nach Fes, wo sie geboren wurde. „Aber die Rente reicht nicht.“ Obwohl, früher, in der Sowjetunion, „das war auch sehr schön“. Sie will ja auch nichts beschönigen, aber insgesamt „war das Leben sorgloser“. Ihre Bilanz liest sich so: „Mein jüngster Enkel, arbeitslos. Mein ältester, der wußte auch nicht, wo er Arbeit bekommt. Meine Enkelin hat Abitur gemacht, aber keinen Studienplatz bekommen.“ Sie seufzt trotzdem ohne Klageton: „Man muß jetzt um so viele Sachen Angst haben.“

Am meisten bangt sie, daß man im neuen Deutschland „als Mensch“ keine Rolle spielt. „Mit 40 ist man alt und unnütz. In der DDR wurden alle gebraucht, immer. Es hieß doch immer ,gefordert und gefördert‘, so war das.“ Das war ihr realer Sozialismus. Welche Strömung in der PDS den Ton angibt, ist ihr egal. „Menschen in Not helfen“, das soll ihre Partei. Worthülsen wie „Stalinist“ oder „Reformer“ können sie nicht treffen, weil sie sich unter diesen Begriffen nichts vorstellen kann. Sie sagt nur: „Eine Partei muß es doch geben, die sich um die Menschen kümmert.“ Jan Feddersen, Schwerin