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Heimliche Aufnahmen vom Leben in einem Land im Krieg

■ Den Alltag Algeriens will unser Fotograf Michael von Graffenried mit seiner Panoramakamera abbilden

Die meisten Kollegen haben aufgegeben. Viele sind tot – ermordet in Ausübung ihres Berufes, andere haben Einreiseverbot, wieder andere sind untergetaucht. Michael von Graffenried fotografiert weiter in Algerien. Seit knapp sechs Jahren fährt er immer wieder hin und lichtet den Alltag ab. Eine verschleierte Frau und ein Mann mit nacktem Oberkörper, eng umschlungen am Meer. Lachende Gesichter beim Beschneidungsfest. Ein in Ekstase schreiender Junge. Kniende Männer beim Freitagsgebet. In einer langen Schlange vor dem französischen Konsulat wartende Menschen. Saddam Husseins Konterfei auf einer Rechenmaschine. Schwerbewaffnete Polizeigrenadiere auf einer Verkehrsinsel in Algiers Innenstadt.

Tote, Verletzte, Blut – das gibt es in Graffenrieds schwarzweißen Bildern nicht. Einmal nur hat er ein Opfer abgelichtet – eine Frau, die beim Abholen ihres Brautkleides von Bombensplittern im Gesicht getroffen wurde. Nach dem Attentat hatte die Mutter des Verlobten die Verletzte noch einmal im Krankenhaus besucht, um das zerfetzte Gesicht in Augenschein zu nehmen. Ihren Versprochenen hat die junge Frau bis heute nicht wiedergesehen.

Wie er es schafft, mitten im Krieg das normale Leben zu zeigen? Der in Paris lebende Graffenried tut so, als sei es ganz einfach: „Ich gehe da völlig naiv hin und guck' mir das an.“ Der 39jährige Schweizer beschreibt sich als Außenstehenden, der mit großen Augen auf den ihm fremden Konflikt schaut. Als jemanden, der unbelastet von kolonialer Vergangenheit und von interner Parteinahme ist. Zugleich begreift er „irgendwie“ alle Beteiligten – die militanten Islamisten wie die Militärs.

Erstmals kam Graffenried, der zuvor Reportagereisen nach Asien, Afrika, in die USA und die Sowjetunion gemacht hatte, 1991 nach Algerien. Da befand sich das Land in der Aufbruchstimmung der ersten Parlamentswahlen nach 38 Jahren Einparteiensystem, und die Schweizer Botschaft hatte ihn eingeladen, seine bissige Abrechnung mit der Heimat – Titel: „Swiss Image“ – auszustellen und einen Workshop mit algerischen Fotografen abzuhalten.

Das Algerien jenes Herbstes zeigte sich Graffenried als „totale Demokratie“ und „friedliches Land“. Militärs und Islamisten hatten die propagandistischen Vorteile einer freien Presse erkannt und ließen den ausländischen Fotografen und seine acht algerischen Kollegen gewähren.

Doch die Freiheit währte nur wenige Monate. Der Abbruch des Urnengangs, der verkappte Militärputsch, die Internierung der Spitzen der Opposition, der Untergrundkrieg, die Ermordung des neuen Präsidenten Boudiaf – jede einzelne Etappe der algerischen Eskalation machte die Arbeit des Fotografen schwieriger. Zunehmend gehen die Menschen auch vor der Kamera in Deckung. Die islamische Religion, die kein Abbild zuläßt, und die Angst vor Spitzeln sorgen für Mißtrauen. Heute ist der Fotograf nur noch bei Familienfeiern willkommen.

Von Graffenrieds acht algerischen Kollegen arbeitet keiner mehr als Pressefotograf im Land. Fünf sind emigriert, einer schlägt sich mit Postkarten durch, einer arbeitet als Ethnologiefotograf. Der achte hat den Beruf gewechselt. Graffenried hat seine Technik den neuen Bedingungen angepaßt. Wie früher spaziert er in Begleitung eines algerischen Freundes durch die Straßen. Mit seinen dunklen Locken und seinen abgewetzten Klamotten hebt er sich nicht von den anderen Passanten ab. Aber anders als früher sucht er nicht mehr das Einverständnis der Fotografierten – heute macht Graffenried heimliche Aufnahmen.

Graffenried benutzt jetzt eine Panoramakamera in Algerien. An einem langen Band hängt die „Widelux“ vor dem Gürtel des schlanken Mannes, während er beim Flanieren direkten Blickkontakt zu seinem Begleiter oder Umstehenden sucht. Wer nicht ganz genau beobachtet, kann unmöglich bemerken, wie er gleichzeitig mit einer Fingerbewegung die Objektivöffnung auslöst. Die Bilder, die so entstehen, zeigen ganze Straßenzüge, Hausfassaden und Menschenmengen.

Wenn die Behörden ihn lassen, fährt Graffenried weiter nach Algerien. „Inschallah“ – so Gott will – wird das klappen, sagt er. Und obwohl er manchmal das Gefühl hat, Bilder zu stehlen, wird er weiter Panorama fotografieren. Anders sei ein Land im Krieg nicht zu zeigen, glaubt er. Und darum geht es dem Schweizer vor allem: zeigen, was in Algerien passiert. Daran, daß Bilder die Welt verändern können, glaubt er nicht. An Einmischung in den Konflikt auch nicht. Aber er ist überzeugt, daß seine Bilder in 40 Jahren noch viel aussagekräftiger sein werden als heute. Dorothea Hahn, Paris

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