: Vergessener Ort der Leidenschaften
Heute beginnt im neugebauten Velodrom das Sechstagerennen. Bis 1973 wurde dieses Ereignis im legendären Schöneberger Sportpalast begangen. Dort steht jetzt ein Betonklotz mit 1.600 Mietern ■ Von Ansgar Hocke
Mindestens fünfmal pro Woche überquere ich seit Jahren die Kreuzung Potsdamer/Ecke Pallasstraße. Dabei tauchen sie auf, diese lächerlich-nostalgischen Erinnerungen aus der Kinderzeit. An der Hand meines Vaters ging ich als Knirps in den Sportpalast zum Sechstagerennen, dieser Mischung aus Kirmes, Oktoberfest und Karneval. Stars wie Otto Ziege und Rudi Altig zogen ihre Runden und Vatern erzählte, wie er schon kurz vor dem Krieg auf dem Rang, dem sogenannten Heuboden, die Radler anfeuerte. Die Luft kochte, auf den Holzbahnen donnerte und polterte es mit jeder Rundfahrt der Fahrer mehr, die Glocke ertönte zum Prämienlauf, die Anfeuerungsrufe aus dem Innenraum wurden lauter und lauter. Und dann spielte das Orchester den Sportpalast-Walzer, „Krücke“ war mit dabei, der Zeitungshändler mit dem steifen Bein, Berliner Original und so etwas wie das „Maskottchen des Sportpalastes“. Krücke pfiff auf zwei Fingern Melodien, und immer dann, wenn das Orchester mit dem Walzer anfing, legte auch Krücke los. Der Palast tobte, glich einem Hexenkessel.
Heutzutage tobt am selben Ort lautstark nur noch der Berufsverkehr. Die Doppeldecker bremsen und brausen hin und her, die Obsthändler vom Birlik Market rufen einem die Sonderangebote zu. Hektisch geht's auch gegenüber im italienischen Eiscafé Vaninis zu, und auch im Ugrak-Imbiß hört das Türschlagen nicht auf, hundertfach werden die Döner umgesetzt.
Potsdamer/Ecke Pallasstraße: Mag alles auf den ersten Blick lebendig und geschäftig aussehen, ein wenig orientalisches Flair dazukommen, spätestens beim zweiten Blick führt kein Weg an jenem Sammelsurium von Betonfertigteilen vorbei, das zusammen einen Wohnort ergeben soll, bestehend aus einem schmalen zehnstöckigen Rechteck und einem breiten fünfstöckigen Quadrat. Seit zwei Jahrzehnten graut diese Häßlichkeit vor sich hin, doch an diese Gleichgültigkeit der Stadtplaner und Architekten in den siebziger Jahren gegenüber diesem Stück Kultur kann man sich nicht gewöhnen.
Der Sportpalast öffnete 1910 seine Tore und brach gleich alle Rekorde. Als größter Eispalast der Welt bot er Platz für 6.000 Menschen. Als die Eislaufbegeisterung nachließ, lockte eine andere Sportart: das Boxen. Max Schmeling kämpfte im Ring. Ihm folgten andere Künstler: Duke Ellington, Mahalia Jackson zog es in den riesigen Stahlbetonbau. Der Palast blieb nicht lange ein Ort fröhlich ungezwungener Ausgelassenheit. Die Parteien entdeckten ihn für die politische Massensuggestion: Egal ob Zentrum, Kommunisten oder die Deutschnationalen: Das Haus war proppenvoll, die Redner anfeuernd, laut der Gesang von 250 Arbeitersängern von der SPD, ideologisch der Lichtbildervortrag der Kommunisten unter dem Titel „Aus dem Leben eines revolutionären Führers“.
Der Mann, der sich ebenfalls Führer nannte, trat zum ersten Mal auf einer öffentlichen Kundgebung in Berlin im Sportpalast vor 15.000 Menschen ans Mikrophon. Den Nazis gelang es, dem Sportpalast einen traurigen Ruhm zu verschaffen. Am 18. Februar 1943 beschwor Propagandaminister Goebbels den „Ernst der Stunde“ und erhielt fanatische Zustimmung auf seine Frage: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Tausendfaches Ja schallte ihm entgegen.
Kein Schild, keine Tafel geben an dieser Stelle darüber ausreichend Auskunft. Der Sportpalast mußte Platz machen, wurde Opfer der Rammkugel. Anfang November 1973 wurde er dem Erdboden gleichgemacht. Die Stadt verlor ihre „Arena der Leidenschaften“, einen Ort, an dem es nicht nur Triumphe gab, sondern Tränen flossen, Massen manipuliert wurden und sich Tragödien abspielten.
Heute wohnen an diesem Fleck über 1.600 Menschen, die höchste Wohndichte der Innenstadt. Familien aus über zehn Nationen treffen aufeinander. Über sechzig Prozent der Familien leben von der Sozial- oder der Arbeitslosenhilfe. Noch bis in die achtziger Jahre hinein war ein ständiges Kommen und Gehen. Jetzt hat die Fluktuation erheblich nachgelassen, denn vor allem die türkischen Familien holen Verwandte und Bekannte nach, wenn Wohnungen frei werden. Sie wollen nicht nur hier wohnen, sondern trotz der tristen Umgebung hier gemeinsam leben.
Das Leben im Sportpalast erlosch mit den Nazis, dem Gebäude gaben die alliierten Fliegerbomben den Rest. Bis auf die Grundmauern brannte der Palast nieder. erst 1953 konnten die Berliner wieder ihre Sportarena an der Potsdamer besuchen. Die Radler strampelten sich beim Sechstagerennen ihre Waden stramm, es gab Eisrevuen, Bockbierfeste, die Harlem Globetrotters begeisterten am Ball und es lockte Louis Armstrong, Ella Fitzgerald und einige Zeit später Frank Zappa und Jimi Hendrix.
Nicht ein Millimeter der vorhandenen Architektur macht all diese Ereignisse ablesbar, erzählbar oder erlebbar. Versteckte Vergangenheit hinter all den Fertigbetonteilen, den Minibalkonen und -fenstern, aus denen die Parabolantennen ragen, die den Kontakt zur Welt herstellen. Die winzigen gesichtslosen Hauseingänge von Parabolien erinnern mich stets an die Eingänge zu Käfigen. In den Nullachtfünfzehn-Treppenhäusern riecht es tagaus, tagein muffig, obwohl – wie Mieter einem unaufhörlich versichern – die drei Hauswarte sich sehr viel Mühe geben, die Flure sauber zu halten.
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