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Frei und doch schuldig

■ Dritter Wormser Prozeß zu Kindesmißbrauch endet mit Freisprüchen. Im ersten Verfahren blieb Verdacht bestehen

Berlin (taz) – Mit einem Freispruch für alle fünf Angeklagten ist gestern der dritte Wormser Kindesmißbrauchsprozeß am Landgericht in Mainz beendet worden. Die drei Männer und zwei Frauen zwischen 30 und 74 Jahren waren beschuldigt worden, in insgesamt 52 Fällen zwölf eigene und mit ihnen verwandte Kinder sexuell mißbraucht zu haben. Die Staatsanwaltschaft kündigte umgehend Revison an.

Worms I, II und III werden die drei Verfahren genannt, in denen der wahrscheinlich spektakulärste Fall von Kindervergewaltigung der Bundesrepublik aufgedeckt werden sollte. Insgesamt 25 Menschen sollen 15 Kinder sexuell mißbraucht und zum Teil dabei gefilmt haben. Kinder und Angeklagte kamen aus zwei verfeindeten Familienclans, die sich seit den achtziger Jahren um das Sorgerecht stritten, sich gegenseitig wegen ihres sozialen Status verachteten und beschuldigten, die jeweils andere Seite mißhandele ihre Kinder.

Die Prozesse wurden nach Familienstämmen getrennt. Worms I mit sieben Angeklagten begann im November 1994 und endete im Dezember 1996 mit Freispruch. Auch hier ist die Staatsanwaltschaft in Revision gegangen. Worms II mit 13 Angeklagten begann am 3. April 1995 und soll Ende September dieses Jahres abgeschlossen werden. Worms III, der gestern zu Ende gegangene Prozeß, lief seit Ende April 1995. Er dauerte 83 Verhandlungstage, an denen 107 ZeugInnen und acht Sachverständige gehört wurden. Die Prozeßakten umfassen 50 Bände mit über 9.000 Blatt.

Die Ermittlungen in allen drei Verfahren hatten im Juni 1991 ihren Anfang genommen. Zwei Kinderärzte stellten bei der dreijährigen Jenny Verletzungen fest, die sie auf mehrfachen sexuellen Mißbrauch zurückführten. Familie B. erstattete Anzeige gegen Jennys Mutter Marion, verheiratete U. Jenny und ihr Bruder kamen zur Großmutter B. Prozesse und Untersuchungen folgten, das Jugendamt versuchte, die Familien zu betreuen. Im November 1993 entstand durch die Aussage der vierjährigen Isabell gegenüber einer „Wildwasser“-Mitarbeiterin erstmalig der Verdacht, daß die beiden verfeindeten Familienclans zusammen die Kinder sexuell mißhandelt und dabei gefilmt hatten. Im Dezember 1993 wurden alle Verdächtigten festgenommen. Sie bestritten bis zuletzt die Vorwürfe. Erschwert wurde das Verfahren durch den Tod der Großmutter B. im Januar 1995 in U-Haft.

Während der Ermittlungen und der Verfahren wurden die Kinder mehrmals von Jugendamt, ÄrztInnen, SozialarbeiterInnen, „Wildwasser“-Mitarbeiterinnen und GutachterInnen befragt. Mehrfach stellten sie mit anatomischen Puppen die Situationen nach, in die sie von den Erwachsenen gezwungen worden sein sollen. Manche Aussagen der Kinder widersprachen sich; die ärztlichen Gutachten erlitten vor Gericht einen Glaubwürdigkeitsverlust.

Wegen der Widersprüche sprach der Vorsitzende Richter Jens Beutel im Worms-I-Prozeß die Angeklagten kurz vor Weihnachten 1996 frei, hielt ihnen aber vor, sich an den Kindern vergangen zu haben. Die Angeklagten, sagte Beutel damals, „haben damit zu leben, daß der Verdacht des sexuellen Mißbrauchs bei allen fortbesteht“. Ulrike Winkelmann

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