■ Die DDR-Bürger wollten die SED-Herrschaft beseitigen, aber sie nicht selbst ergreifen. Eine Antwort auf Udo Knapp: Das Gleichgewicht der Instabilität
Die alte Funktionselite der DDR sei noch immer an der Macht, regiere ganz wie früher: in PDS und Ost-CDU. Dies behauptete das SPD-Mitglied Udo Knapp am 17. Januar an dieser Stelle. Er forderte dazu auf, die Diskriminierung der Funktionäre jenseits des Zentralkomitees zu beenden. Knapp möchte alle ehemaligen DDR-Bürger in den demokratischen Konsens einbeziehen, die Deutschen versöhnen. Dem in Rügen lebenden Politiker schwebt dabei eine Art „Generalamnestie“ vor, wie sie um 1950 für Funktionseliten des Nationalsozialismus erlassen worden war. Das sind Thesen, die Widerspruch herausfordern.
Für meine Lebens- und Arbeitsumgebung in Ostberlin trifft Udo Knapps Situationsbeschreibung nicht zu. Alle Direktoren wurden ausgewechselt, und die Mehrzahl der heutigen Professoren hat vor 1989 im Westen gearbeitet. Es gibt sehr viele Ostwissenschaftler, die in befristeten Anstellungen um ihre Existenz kämpfen, und nur ein Teil von ihnen war früher in der SED. Selbst manche Aktivisten des Herbstes 89 sind ohne Stelle.
Die Ressentiments in meinem persönlichen Umfeld richten sich deshalb eher gegen die neue als gegen die altneue Funktionselite. Und meine persönlichen Freunde, die nicht zur SED, sondern zum Neuen Forum gehörten, haben sich alle arrangiert. Sie sind keine Funktionsträger geworden, aber auch keine Einheitsverlierer. Die junge Generation schließlich kämpft um ihren Platz in der Gesellschaft und hat Probleme mit der unsicheren Zukunft. Sie ist frei von Ostnostalgie. Man merkt ihr kaum noch an, daß sie in der DDR zur Schule gegangen ist und einst bei den Jungen Pionieren oder der FDJ war.
Ob die DDR-Diktatur in den Herzen, dem Denken und Fühlen tatsächlich weiterlebt, wie das Knapp unterstellt, sei dahingestellt. Wichtig ist für mich folgendes: Es hat sich inzwischen eine selbstbewußte Ostmentalität entwickelt. Sie hat historische Wurzeln, in ihrem Kern ist sie aber von der DDR-Sozialisation bestimmt. Allerdings darf man die DDR- Mentalität nicht mit der SED- Mentalität gleichsetzen, denn erstere hat sich oft gegen letztere entwickelt. Aufgrund der Umwälzungen seit 1990 hat sich das Ostbewußtsein weiter verfestigt.
Hat sich, wie Knapp weiterhin behauptet, an der politischen Ideenwelt der Bürger der östlichen Bundesländer seit 1989 nichts geändert? Tatsächlich verhält sich die Mehrheit der Ostbürger passiv. Viele verharren in der gleichen resignativen Haltung wie vor der Wende. Ideale wie Selbst- und Mitbestimmung an den öffentlichen Angelegenheiten haben für die Menschen hier keinen hohen Stellenwert. Gleichzeitig ist das Prestige der Parteien und der öffentlichen Amtsträger schlecht. Es dominiert das Vorurteil, daß „die alle“ lediglich ihre persönlichen Interessen verfolgen. Illusionär wäre es, zu glauben, daß sich diese Haltung schnell ändern würde. Das Ergebnis: Im Wahlverhalten schwankt die Bevölkerung zwischen dem Wunsch nach Autorität (verkörpert in Personen wie Biedenkopf und Stolpe) und emotional motiviertem Protest, der sich auch gegen die eigenen Interessen richten kann, wie das Abstimmungsverhalten über die Länderfusion Brandenburg-Berlin gezeigt hat.
Das alles mag, vom Standort Westen betrachtet, merkwürdig erscheinen. Aber ich weiß nicht, wie entschieden die Westdeutschen ihre Demokratie im Krisenfall wirklich verteidigen und nicht nur tolerieren würden.
Im Gegensatz zu so manchen enttäuschten „89ern“ überrascht mich keineswegs, daß sich viele der früheren Funktionseliten in den neuen (CDU) oder gewendeten (PDS) Parteien – in manchen Regionen ist es die SPD – wiederfinden. Natürlich ist das nicht, wie bisweilen behauptet, das Ergebnis einer Konterrevolution. Es ist viel banaler. Ein Region von der Größe der östlichen Bundesländer benötigt schlicht rund eine Million mittlerer und höherer Funktionsträger. Es war illusionär, zu glauben, daß die alle ausgewechselt werden konnten, zumal die Hunderttausende, die 1989 demonstrierten, zwar die Herrschaft beseitigen, aber sie nicht selbst ergreifen wollten. Aus all diesen Gründen war es unausweichlich, daß viele „in den Apparaten“ auftauchten, die auch vorher dort waren.
Dieser Prozeß schlägt sich im politischen Spektrum nieder. Wer sich zu den Siegern zählt, der wählt CDU, seltener die FDP. Die „Abgewickelten“ und Enttäuschten eher die PDS. Die SPD hat es bei dieser Konstellation schwer, sich als Opposition darzustellen. Bündnis 90/Die Grünen ist in der breiteren Bevölkerung nicht verankert und deshalb auf den alternativ- ökologischen Kern verwiesen. Hinzu kommt, daß die „Bürgerrechtler“ von den politisch Desinteressierten fälschlicherweise den „Grünen“ zugerechnet werden, was gegenwärtig Stimmverluste einbringt.
An dieser Konstellation wird sich so bald nichts Wesentliches ändern. In den Parlamenten der östlichen Bundesländer wird es die drei Parteien (PDS, SPD, CDU) und vermutlich auch wieder die beiden kleineren (Bündnis 90/Die Grünen, FDP) geben, und die Landesregierungen werden sich, je nach lokalen Besonderheiten, als Große Koalition oder als SPD/ PDS-Koalition bilden – ein in seiner Instabilität „normales“ Gleichgewicht.
Wer glaubt, in nächster Zukunft würden weniger Menschen die PDS wählen, der irrt. Denn bei den Wahlerfolgen der PDS ist folgendes zu berücksichtigen: Bei der 1990er Wahl stimmten eine Million, 1994 bereits zwei Millionen für sie. Nur ein Teil wählte als Protest gegen den Untergang der DDR die PDS, die andere Hälfte votierte gegen die Entwicklung nach der Vereinigung.
Dem Vorschlag Udo Knapps eines Generalpardons für die alten Funktionseliten der DDR, vergleichbar dem Vorgehen in den 50er Jahren, kann ich nicht folgen. Das erscheint mir ein unzulässiger Vergleich zu sein, schließlich wurde Nazi-Deutschland nur durch die größte Militäroperation der Geschichte niedergeworfen. Die Mehrheit der Bevölkerung hat bis zuletzt hochwirksam „funktioniert“ und danach nur spärlich Einsicht gezeigt. Im Gegensatz dazu hatten die Untaten der DDR sich vor allem nach innen gerichtet, und das Regime wurde durch einen Volksaufstand friedlich gestürzt. Deshalb kann ich auch Westler nicht verstehen (Knapp gehört nicht dazu!), die die verfehlte Aufarbeitung von 1950 am Exempel DDR stellvertretend nachholen wollen. Eine solche Gleichsetzung verbietet sich. Jens Reich
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