piwik no script img

Der Totstellreflex

■ Dietmar Kamper sprach im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Das Böse“

Nach dem Heidegger-Biographen Rüdiger Safranski im Oktober letzten Jahres referierte am Freitag Dietmar Kamper, Philosoph an der FU Berlin, im Literaturhaus über die Konjunktur vom Begriff des Bösen. Der Vortrag wirkte unfertig.

Kampers Auffassung vom heutigen Menschen ist durchweg von einer pessimistischen Endzeitstimmung geprägt. So dominiere heute nicht mehr die Selbstliebe, sondern eine schleichende Selbstverachtung. Außerdem könne der Mensch in unseren Zeiten nur überleben, wenn er entweder den anderen oder sich selbst zum Opfer macht.

Der heutige Mensch ist nach Kamper mehr Geist als Körper, ein Gefängnis aus Bildern und Worten. Nur der Körper kann wahrnehmen, was der Geist wahnhaft ausübt. Sofort kam der Verdacht auf, daß hier eher vom Versuch einer Selbsttherapie eines Philosophen als von einem allgemeinen Menschenbild die Rede war. Im Laufe des Vortrages wurde deutlich, daß Kamper vermessen genug ist, sowohl das eine als auch das andere anzugehen. Die derzeitige Renaissance des Bösen sieht Kamper darin begründet, daß das Böse heute nicht mehr dem Dunklen überantwortet werden kann, wie es etwa Wilhelm Busch mit dem Satz „Das Böse ist das, was der Gute sein läßt“ gemeint hat. Gut und Böse haben gemeinsam eine diesseitige Hölle geschaffen: Das Böse ist in die höchsten Errungenschaften des Menschen eingewandert und unkalkulierbar geworden.

Poetisches Glanzlicht des Vortrags war ein Sprachspiel. Die fünf im Deutschen zur Verfügung stehenden Hilfsverben verbanden sich zu einer „Windrose der Leidenschaften“: „Du kannst nicht tun, was du willst; du willst nicht tun, was du darfst; du darfst nicht tun, was du sollst; du sollst nicht tun, was du mußt.“ Der radikalen Niederlage des menschlichen Geistes hielt Kamper damit ein Gefühlsgemisch verhinderter Leidenschaft entgegen, das einem ästhetischen Totstellreflex gleichkommt. Daß er zum Bösen Stellung bezogen hat, konnte nun wahrlich nicht mehr bestritten werden. Aber ob sein Ansatz zur Nachahmung oder Weiterführung einlädt, scheint zumindest fraglich. Stefan Pröhl

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen