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Ohne Bleibe, ohne Beschützer

In Rußland hat die Spekulation mit Wohnraum viele Kinder obdachlos gemacht. Und nicht mal in Heimen sind die „Sozialwaisen“ sicher  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Am Ufer des Flüßchens Jausa, am Rande der Moskauer Innenstadt, steht eine gelb verblassende, klassizistische Villa. Der junge Helfer, der heute in der morgendlichen Dunkelheit vor der Tür den Besen schwingt, tut es pro forma: Er schiebt Wache. Als sich die Tür öffnet, bietet sich ein deftiges Schauspiel: Im christlichen Mädchenheim „Insel der Hoffnung“ ist wieder „Razzija“.

Die Betreuerin Tanja, eine Flüchtlingsfrau aus Tschetschenien, kreischt den Milizionär an, weil er ihr gerade das „Dokument Nr. 9“ zerrissen hat, ihren Paßersatz. Die Tür zur Toilette ist eingeschlagen, einem kleinen Jungen hat der Ordnungshüter sein Radargerät auf den Kopf geknallt. Stumm vor Schreck sitzt die Küchenhelferin Nadja in der Ecke, ein zierliches, aschfarbenes Geschöpf mit rundem Bauch.

Der Milizionär ruft vor seinem Rückzug Verstärkung herbei – Kollegen mit Maschinenpistolen. Gelassen bewegt sich in dem Geschehen Alexander Ogorodnikow, ein Mann mit alternativer Pferdeschwanzfrisur, seines Zeichens Altdissident. Fast neun Jahre verbrachte er wegen Propaganda für das Christentum in verschiedenen Gefängnissen und Lagern. Nach der Wende gründete er die kleine, aber aktive Christlich-Demokratische Union Rußlands. „Mir macht das kaum etwas aus, aber den Kindern schadet es wirklich“, sagt Ogorodnikow, selbst Vater dreier Söhne. „So geht es jetzt fast jeden Tag bei uns zu: gestern die Feuerwehr, heute die Staatsanwaltschaft, morgen die Vormundschaftsbehörde. Man wirft uns vor, daß wir nicht registriert sind. Dabei gibt es für die Registrierung nichtstaatlicher Jugendheime noch gar kein Amtsverfahren. Die Gesundheitsbehörde bemängelt das Fehlen von warmem Wasser. Das alles läßt sich leicht erklären. Allein der Boden, auf dem diese historische Villa steht, ist heute eine Million Dollar wert. Und manchmal geben Beamte unter vier Augen zu, daß jemand sie beauftragt hat, das Grundstück von uns zu befreien.“

Fast alle MieterInnen Rußlands hatten Anfang der neunziger Jahre die Möglichkeit, die von ihnen bewohnten Räumlichkeiten für ein Butterbrot zu „privatisieren“, das heißt, sie sich als Eigentum überschreiben zu lassen. Seither ist auf dem Immobilienmarkt der teuren Hauptstadt der Mensch des Menschen Hai. AlkoholikerInnen, Drogensüchtige oder einfach sozial Schwache können oft der Versuchung nicht widerstehen, sich durch den Verkauf der eigenen Wohnung ein hübsches Sümmchen zu verschaffen – selbst wenn sie dadurch die eigenen Kinder des Daches über dem Kopf berauben. Die Zahl der Minderjährigen, die auf Dachböden, in Treppenhäusern und auf Bahnhöfen in Moskau übernachten, wird auf 60.000 geschätzt. Bei der Leidensgeschichte der Hälfte von ihnen spielt die Wohnungsprivatisierung eine Rolle.

„Sozialwaisen“ nennt die russische Christlich-Demokratische Union die heute 16 Gäste dieses Heims. Sie sind zwischen sieben und siebzehn Jahre alt. Etwa 60 Mädchen wurden hier seit der Gründung vor zwei Jahren beherbergt, die meisten gehen heute einer gutbürgerlichen Tätigkeit nach. Zwei leben im Kloster und möchten Nonne werden. Ogorodnikow hat ihnen geraten, noch ein paar Jahre zu warten. Wie sie alle hierherkamen? Manchmal meldet sich ein Mädchen von selbst, nachdem es in der zentralen Suppenküche der Christlich-Demokratischen Union gegessen hat, wo täglich 500 Menschen eine warme Mahlzeit erhalten. Ansonsten durchkämmen Parteimitglieder die Bahnhöfe. „Am besten ist es für uns, wenn wir die Mädchen schon in den ersten Tagen ihres Aufenthaltes dort finden. Wenn sie erst einmal der Mafia in die Hände gefallen sind, haben wir ein schweres Spiel“, sagt Ogorodnikow. Und die Miliz? „Wir hatten hier einen Fall, in dem das Mädchen auf der Bahnhofsmiliz vergewaltigt wurde, um es für die Zuhälter gefügig zu machen.“

Hat ein Kind in Rußland erst einmal sein Dach über dem Kopf verloren, gerät es in einen Kreislauf der Gewalt, aus dem es fast kein Entweichen gibt. Fast alle staatlichen Einrichtungen springen mit Kindern auf totalitäre Weise um. Viele Angestellte dort versuchen, sich an Geld und Nahrungsmitteln für die Schutzbefohlenen zu bereichern.

Und wenn es in diesem Gebäude noch kein fließend warmes Wasser gibt, so ist das für die meisten der Mädchen hier ein vernachlässigbares Übel angesichts der Schrecken, die hinter ihnen liegen. Die meisten sehen heute aus und benehmen sich wie ganz normale Kinder. „Früher habe ich auf dem Bahnhof gelebt“, strahlt Sofija. Die Zwölfjährige hat außerdem schon die Schrecken der staatlichen Auffangstation erlebt. Als Bettnässerin wurde sie dort gezwungen, nächtelang zu stehen. Sofija lacht: „Hier gehe ich nicht mehr weg.“

Langsam kommt die Küchenhelferin Nadja zu sich und erklärt, was sie so verstört macht. Sie, Tochter einer Prostituierten und obdachlos, war zeitweilig so verzweifelt, daß sie auf Dachböden Klebstoff schnüffelte. Hier will ihr die ganze kleine Gemeinschaft helfen, sich auf ihr Kind zu freuen. Aber der Milizionär hat gesagt: „Wir werden dafür sorgen, daß dein Kind im Gefängnis zur Welt kommt, wo ihr beide hingehört.“

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