: Verstörte Jungs
Barry Levinson singt in „Sleepers“ das hohe Lied vom Kumpelwesen: Vier Jungs, die im Knast vergewaltigt werden, nehmen erst Schaden an ihrer Seele und später blutige Rache ■ Von Katharina Rutschky
Das Wort Familienbande habe einen fatalen Beigeschmack von Wahrheit, behauptete Karl Kraus, und alle Nestflüchter und Tantenhasser haben es gern gehört und sich flugs aus dem Staube gemacht. Und wohin sind die Jungs jeden Alters geflohen? Auf die Straße, den Sportplatz und in die Kneipe – jedenfalls dahin, wo die Kumpels sind.
Nach seinen Explorationen der männlichen, insbesondere auch der männlichen Gruppenpsyche („Diner“, 1982; „Tin Men“, 1987; „Good Morning, Vietnam“, 1987; „Rain Man“, 1988) hätte man es Barry Levinson eigentlich zugetraut, daß er nun einmal die kriminellen Potentiale der rein männlichen und extrafamilialen Zusammenrottungen beleuchtet, die in seinem neuen Film „Sleepers“ die Handlung in Gang halten. Weil ihm das Kumpelwesen als Thema nicht gereicht hat, ist der Film trotz Starbesetzung, prima Kamera (Michael Ballhaus), dem pittoresken New York der italienisch-irischen Unterschicht und einem verführerischen Musiktrack – um nur das zu nennen – so geglückt wie „Pizza mit allem drauf“.
Wer will, kann sich beim Betrachten auch den Sport machen, die diversen Genrefilme herauszufieseln, die Levinson auch noch als Geschmacksverstärker eingesetzt hat, damit es uns an nichts fehlt. Da gibt es den Jugendproblemfilm, das period piece über die sechziger Jahre, den Gerichtsfilm, das Melodram und die hilflos ihren Peinigern ausgelieferten Kinder; das Mantel-und-Degen-Stück und schließlich das Sozialdrama über die Zustände im Jugendstrafvollzug mit besonderer Berücksichtigung des Seelenmordes durch sexuellen Mißbrauch ebendort.
Alle diese Zutaten finden sich auch in dem Roman, der dem Film zugrunde liegt und von dem sein Autor sowie alle später dazugekommenen Verdächtigen steif und fest behaupten, daß ihn das Leben geschrieben habe: Fiktiv seien bloß ein paar Namen und Lokalitäten, damit die Persönlichkeitsrechte der heute noch lebenden Protagonisten der unglaublichen Geschichte gewahrt bleiben.
Worum geht es? In einer New Yorker Problemzone, genannt „Hell's Kitchen“, wachsen in den sechziger Jahren vier Freunde auf. Weil es zu Hause wegen Unkultur, Gewalt und dergleichen wenig zu tun und zu lachen gibt, retten die vier sich auf die Straße und formieren sich dort unter der romantischen Überschrift „Freunde durch dick und dünn“ zu einer Bande, die sich Geld und Freizeitspaß mit ihren keineswegs feinen Mitteln zu verschaffen wissen.
Shakes, der Erzähler im Film und auch die Hauptperson in der umstrittenen Vorlage, ist Italiener und bekommt einen Job als Geldbote bei der Mafia. Die Kumpels sind immer dabei, wenn er das Schmiergeld bei der Polizei abliefert, um ihn zu schützen. Kein Gedanke, daß ihre reinen Seelen durch die aktive Partizipation an der kriminell geordneten Ghettokultur Schaden nehmen. Eher zeigt uns die Kamera eine sortierte Gruppe niedlicher Buben, die sich den Scouts der Musikindustrie empfehlen könnten, wenn die Brustmuskulatur noch besser entwickelt wäre. An den breit beim Sonnenbad in Szene gesetzten flachen Jungenkörpern hängt aber ihre körperliche Unschuld, wie ihre Seelenreinheit und Integrität, an der Freundestreue durch dick und dünn. Deshalb erscheint die Katastrophe, die sie verursachen und die ihr Leben aus der Bahn wirft, auch bloß wie ein Jungenstreich, über den man die Kontrolle verloren hat, und nicht wie die gemeine Tat, die sie von Anfang an ist. Ein Straßenhändler wird um seine armselige Existenz gebracht, ein Passant wird verkrüppelt. Die Aufgabe, über den Unterschied von Freundschaft, Kumpanei und Bandenbildung nachzudenken, überläßt der Film den anderen vier, in deren Fänge die Buben nun geraten, nachdem sie zu Strafe und Besserung in eine Erziehungsanstalt eingewiesen werden.
In diesem Jugend-Gulag sind sie von der Außenwelt völlig abgeschnitten und niemand kann sie vor den Schikanen, der Folter und den Vergewaltigungen schützen, an denen die zweite Viererbande ihr sadistisches Vergüngen findet. Es sind erwachsene Männer, Aufseher, denen der Charme der jugendlichen Übeltäter natürlich völlig abgeht, obwohl auch sie wie Pech und Schwefel zusammenhalten – oberstes Gesetz des hohen Kumpelwesens.
Nun Schnitt: 15 Jahre sind vergangen. Der Jugend-Gulag hat aus eigentlich guten Jungs broken blossoms gemacht, Zombies, liebesunfähige Untote, die sich nicht mehr so oft sehen, aber ein gemeinsames Projekt stillschweigend konserviert haben: Rache an der anderern Viererbande. Es trifft sich gut, daß zwei der broken blossoms, zu Gangstern und Killern geworden, keine Minute zögern, als sie den Hauptbösewicht in einem Restaurant treffen. Sie knallen ihn coram publico ab. Es trifft sich noch besser, daß die zwei anderen als Staatsanwalt und Journalist einen anständigen Beruf ausüben und über die Kompetenz verfügen, nun in einer weitläufigen Intrige nicht nur ihre zwei mörderischen Kumpels vor Gericht freizupauken, sondern auch die restlichen drei der gegnerischen Bande (pädophile und/oder korrupte Schweine) vollständig zu erledigen. Noch zwei Tote.
Dazu bedarf es der gütigen Mitwirkung eines alten Mafia-Bosses aus „Hell's Kitchen“, der jetzt die Puppen tanzen läßt, wozu er damals, als sie im Gulag litten, offenbar nicht imstande war. Den Mafia-Boß gibt der edle Römer Vittorio Gassmann. Und außerdem braucht man die Falschaussage und den Meineid von Robert De Niro in der Rolle des wahren Priesters mit echter street credibility und dem großen Herzen für alle broken blossoms in seiner Diözese.
Brad Pitt ist der jugendliche Staatsanwalt, der so tut, als wolle er seine alten Kumpels unbedingt verurteilen – aber wir wissen natürlich, daß auch sein Motiv die gerechte Rache ist. Was er für sich und seine Kumpels tun kann, ist, den Prozeß hieb- und stichfest zu verlieren. Schließlich war er damals der älteste und klügste der Viererbande.
Der Freispruch der Kumpels und Killers wird bei einem nostalgischen Abendessen gefeiert. Fünfte im Bunde ist dabei Carol, heute Sozialarbeiterin und allen Jungs von klein auf vertraut. Alle lieben sie, sie liebt alle, niemand hat sie gekriegt. Sie ist das Maskottchen, daß eine juvenil-fixierte männliche Welt von Kumpels und Freunden vor der Erkenntnis bewahrt, daß sie erwachsen und vernünftig werden müssen.
Oberflächlich gesehen verurteilt Levinson wie seine Romanvorlage ganz vehement die männliche Gewalt gegen Frauen und Kinder, nutzt hemmungslos das dramatische Zeichen der sexuellen Gewalt zur Motivation seiner Helden, aber verstanden hat er sie nicht. Oberflächlich gesehen handelt „Sleepers“ von sozial depravierten Jugendlichen, denen in einer korrupten Gesellschaft via Besserungsanstalt Seelenmord widerfährt. Tatsächlich ist aber alles eine Frage der Ehre und patriarchalischer Macht. Warum greifen Mafia-Boß und weiser Priester nicht ein, wenn es den Jugendlichen wirklich nützt? Warum versuchen Staatsanwalt und Journalist nicht, ihren abgesackten Kumpels früher zu helfen – ehe sie als Mörder vor Gericht stehen?
Ganz einfach, könnte man sagen, so steht es im Roman und so steht es im Drehbuch, von denen behauptet wird, daß sie wahr und authentisch seien. Juristen, Kirche, Schul- und Jugendbehörden in Amerika haben protestiert: Akten und Zeugen fehlen. Peinlich zumindest für einen Film, der eine sentimentale Jugendgeschichte so schwer mit Moral befrachtet. Eine Moral allerdings, die über jene der vier Musketiere noch nicht hinaus gekommen ist, auch wenn die vier uns nun auch noch als verletzte, ja zerstörte Männerseelen imponieren sollen. Nicht Recht, Rache ist ihr Begehr, aber politisch korrekt soll sie auch noch sein. Pizza mit allem drauf eben – als Kritiker müßte man das Handtuch werfen.
„Sleepers“. Regie: Barry Levinson. Drehbuch (nach dem gleichnamigen Roman von Lorenzo Carcaterra): Barry Levinson. Kamera: Michael Ballhaus. Musik: John Williams. Mit: Kevin Bacon, Robert De Niro, Dustin Hoffman, Jason Patric, Brad Pitt u.a., USA 1996, 147 Min.
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