■ Die grünen Realos wollen 1998 an die Macht. Nur wozu sie die brauchen, ist unklar. Eine Replik auf Walter Jakobs
: Die rot-grüne Illusion

Die Grünen in Bonn sind derzeit in einer doppelt schwierigen Lage. Zwar zerfällt die Regierung, zwar sind Steuer- und Rentenreform offenkundig ungenügend – doch nichts von alledem geht als politische Dividende auf das Konto der Grünen. Zweitens wird sich die SPD auf keinen Fall vor 1998 für Rot-Grün aussprechen. Täte sie es, riskierte sie ein Wegbrechen ihres rechten Flügels und brächte sich sogar um die bescheidene Chance, wenigstens in einer großen Koalition mitzuregieren. So schwindet die Aussicht auf eine rot-grüne Bundesregierung.

Verändern, ohne daß es jemand merkt, nachgeben, ohne zu klagen – das ist der Rat, den in dieser Situation Walter Jakobs der grünen Partei gibt. Jakobs fordert mit starrem Blick auf Bundestagswahlen 1998 das Ende der innerparteilichen Diskussion in NRW. Sogar die Debatte, ob denn erfolgreich regiert wird, soll verstummen. Technokratisches Denken mutiert so zu einem Stalinismus der Sachzwänge, der das Wesen der parlamentarischen Mehrparteiendemokratie verkennt. Denn deren Pointe ist gerade, daß soziale Probleme verschieden gewertet werden. Eigene „grüne“ Bewertungen erklärt Jakobs hingegen kurzerhand zu „programmatischen Leichen“. In dieser Sicht wäre ein Einparteiensystem mit Fraktionsverbot und hohem Experteneinfluß das politische Modell der Stunde. An alledem läßt sich beobachten, wie Ohnmacht und Perspektivlosigkeit zur Erstarrung führen.

Jaobs' Text, die gereizte Reaktion des ministeriellen Flügels der Grünen in NRW auf Kritik sowie die Wörlitzer Erklärung, die jede Zusammenarbeit mit der PDS negiert – all dies sind Anzeichen, daß die einst hochgelobte Flexibilität der grünen Realos in einen neuen Fundamentalismus des Mitmachens um jeden Preis umschlägt. Denn Fundamentalismus zeichnet sich dadurch aus, einen der beiden Pole politischen Handelns – die eigenen Absichten oder die vermeintlich objektive Lage – für unveränderlich zu erklären. Der Fundamentalismus des Mitmachens erklärt einerseits – wie Jakobs – die objektive Lage für unveränderlich und andererseits – wie die Wörlitzer Erklärung – schon den Gedanken an andere Strategien zur Erringung der Macht für undenkbar. So schlägt Starrheit in Verlogenheit um. Obwohl alle wissen, daß eine absolute Mehrheit von SPD und Grünen 1998 unwahrscheinlich ist, darf keiner darüber sprechen. Die in den meisten europäischen Staaten stinknormale Form einer Minderheitsregierung darf nicht einmal erwähnt werden. Das Beschwören von Kapitalflucht und Verweigerung der sogenannten Eliten für den Fall einer rot-grünen Minderheitsregierung bestätigt nur, daß mehr als 50 Jahre nach der Kapitulation Nazideutschlands der Weltbürgerkrieg hierzulande noch immer nicht beendet ist. Tatsächlich: Eine rot-grüne Regierung 1998 – mit absoluter Mehrheit oder in relativer Minderheit – wäre seit dem Bestehen der parlamentarischen Demokratie in Deutschland, seit 1919, die „linkeste“ Regierung, die es je gegeben hätte. Allerdings: Niemand will diese Regierung.

So wird die SPD am Ende lieber mit der Rolle des Juniorpartners vorliebnehmen. Adenauers Frage, warum denn die Sozis an die Regierung wollten, wo sie doch die Krankenkassen hätten, bleibt darum aktuell wie eh und je. Immerhin ist der Bundesrat einflußreicher als die Ersatzkassen, wenngleich er sich fast nur noch mit ihnen beschäftigt.

Auch die PDS hat, trotz all ihres aufdringlichen Werbens, an einer solchen Regierung kein wirkliches Interesse. Ohne Oppositionsbonus würden ihr Nimbus und ihre Wählerschaft dramatisch dahinschwinden.

Und die Grünen – besitzen sie den politischen Willen zur Macht, den sie lauthals proklamieren? In Ostdeutschland haben sie sich jedenfalls mit Wörlitz abgemeldet. Wer dort die PDS für nicht koalitionsfähig erklärt, beglaubigt lediglich die eigene Regierungsunfähigkeit. Wer öffentlich Diskussionsverbote verhängt, verrät nur, daß er oder sie immer nur an das eine denkt. Nichts offenbart lustvolle Phantasie deutlicher als ihr Tabu. In Düsseldorf hingegen will die Mehrheit der Partei – koste es, was es wolle – weiterregieren. Auch wenn es nur so scheint, als trügen die Grünen alle wesentlichen Entscheidungen einer jetzigen Regierung Rau und einer künftigen Regierung Clement mit, wäre ihre Existenzberechtigung in Frage gestellt. Was Clement will, kann Clement allein allemal besser.

Daß die Lage im Bund kaum gemütlicher sein wird als in NRW, wissen alle. Wer die Unauffälligkeit dort schon jetzt als Unterpfand der Regierungsfähigkeit im Bund behauptet, stellt, wider alle Absicht, die Frage nach dem Sinn des Unternehmens. Fazit: Auch die Grünen im Bund haben sich, wenn sie denn ehrlich sind, von der Hoffnung auf eine Regierungsbeteiligung 1998 verabschiedet. Sie wollen sie nicht wirklich. Wer will schon Theo Waigels Schulden übernehmen?

Ja, gewiß: Noch weitere vier Jahre Opposition würden an den Nerven der grünen Abgeordneten zehren. Die Jahre vergehen, die Erfüllung bleibt versagt. Andererseits: Stellt man nicht eine angesehene stellvertretende Bundestagspräsidentin, ist man nicht die seit Wehners Tagen beste Opposition dieses Hauses, kann man nicht immer wieder wortgewaltig die wichtigen Themen der Politik ansprechen: die Ökosteuer und die Menschenrechte? Ist das gar nichts? Soll man all das einer höchst ungewissen Reformpolitik wegen aufs Spiel setzen?

In diesem Land herrscht trotz – oder, genauer gesagt, wegen – der ohne jeden Alarmismus bemerkbaren schwersten sozialen und ökonomischen Krise seit 1949 kein Wille zum Wandel. Die Stimmung für einen Regierungswechsel, jenes massenhafte Gefühl „It's time for a change“, will sich einfach nicht einstellen. Im politischen Spiel haben sich alle Akteure selbst und damit auch ihre Partner und Gegenspieler blockiert. Dabei gelten derzeit nicht die Regeln des Schach-, sondern die des Mikadospiels. Wer anderes bewegt als sich selbst, hat schon verloren.

Wo die Politik versagt, kann sich der Blick nur auf die Gesellschaft richten. Hier organisiert sich der Widerstand. Die Gewerkschaften haben die Unternehmerverbände bei der Lohnfortzahlung zum Stehen gebracht. In Baden- Württemberg legen die Studenten mit ihrem geplanten Gebührenboykott eine existentielle Risikobereitschaft an den Tag, die der parlamentarischen Opposition die Schamesröte ins Gesicht treiben müßte. Die nächsten anderthalb Jahre werden weder den Parteien noch dem Parlament gehören. Micha Brumlik