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„Pessimismus geht zu weit“

Mehr offene Stellen in Japan beweisen: Börsentief und Währungsverfall schaden nur den Reichen. Thatchers „Big Bang“ soll Wirtschaft befreien  ■ Aus Tokio Georg Blume

Der Yen fällt, und die Aktien in Tokio schlingern. Obwohl kein Erdbeben zu vermelden ist und die verheerende Ölpest am Japanischen Meer von allen ignoriert wird, hagelt es im Westen Negativschlagzeilen aus Japan: „Japanische Bankaktien stürzen“ und „Zweifel am japanischen Aufschwung“ titelte die in ihrem Nippon-Urteil sonst eher maßvolle Financial Times gleich zweimal in den zurückliegenden Tagen.

Zwar zog die Börse in Tokio am Freitag wieder um fünf Prozentpunkte an, so daß der Nikkei-Index mit 18.330,01 schloß. Doch vorausgegangen war ein Wertverfall der Aktien um 20 Prozent seit dem Jahresbeginn, begleitet von einem Yensturz, der die japanische Währung auf ihren Dollarkurs vom Febraur 1993 zurückbrachte. Gemischt mit neuen Konjunkturprognosen privater Institute, die über ein Prozent Jahreswachstum nicht hinausgehen, ergab sich zum Monatsende ein düsteres Bild: „Niemand glaubt, daß Japan das Tal bereits verlassen hat“, kommentierte Thomas Illemann, Chef der Deutschen Bank in Tokio, gestern die Stimmungslage.

Doch ausgerechnet aus den USA erschallte ein Widerruf: „Der Pessimismus in Japan geht zu weit“, meldete sich Alain Greenspan, der US-Notenbankchef, am Donnerstag zu Wort. Seine Argumentation: Inflation und Arbeitslosigkeit seien in Japan nach wie vor auf dem niedrigsten Stand in der industrialisierten Welt.

Tatsächlich stellt sich die Wirtschaftslage aus der Lage derer, die gewöhnlich am meisten unter einem Konjunkturabschwung leiden, nüchtern dar: Für Japans 2,25 Millionen Arbeitslose stieg die Zahl der offenen Stellen 1996 zum erstenmal seit sechs Jahren. Die Arbeitslosenziffern in Japan sind stabil: Die Quote liegt bei moderaten 3,4 Prozent – für Japan allerdings die höchste Rate seit Einführung der Statistik im Jahre 1953. Die Zahlen fallen auch dadurch freundlicher aus, daß viele Unternehmen Arbeiter weiterbeschäftigen, wenn sie diese eigentlich nicht mehr bräuchten.

„Die japanischen Unternehmen haben nur eine Wahl, wenn sie ihre Aktienkurse stärken wollen: Sie müssen die Profite erhöhen und die Lohnkosten senken“, sagte Kyohei Morita, Experte für Makroökonomie beim Nomura-Forschungsinstitut. Als stärkstes Wertpapierhaus am Finanzplatz Tokio, das von Liberalisierungsmaßnahmen auch am meisten profitieren würde, gehört Nomura zu den tonangebenden Firmen in Japan, die mit den zahlreichen neoliberalen Kritikern im Westen konform gehen und eingreifende Reformen im japanischen Wirtschaftssystem fordern.

Morita redete Klartext: „Leider kann ich Ihnen für das Jahr 2000 nur eine Arbeitslosenquote von vier Prozent prognostizieren.“ Die Betonung lag auf „leider“. Denn erst wenn Japan mehr Arbeitslose zählt, wird es Firmen erlaubt sein, Massenentlassungen vorzunehmen und ihre Profite den Gewinnen westlicher Unternehmen anzugleichen. Und erst dann ist die Tokioter Börse für internationale Kapitalanleger wieder interessant.

Börsenkrise und Yensturz handeln also von einem politischen Machtkampf – ausgelöst durch die Reformer, die ihrem Land die Marktwirtschaft des Westens lehren wollen. Ihr Programm – benannt nach Maggie Thatchers Finanzpolitik der achtziger Jahre – lautet „Big Bang“, ihr Königsweg heißt Deregulierung. Aktuelle Argumente ziehen die Reformer aus der andauernden Finanzkrise: Nomura schätzt die Summe nicht rückzahlungsfähiger Kredite, die seit der Aktien- und Bodenspekulation Ende der achtziger Jahre im Finanzsystem schlummern, auf 800 Milliarden Mark.

Hier läge der eigentliche Grund für die Vertrauenskrise in Yen und Nikkei-Index. Das Kreditloch sei groß genug, die gesamte Volkswirtschaft über weitere Jahre in Mitleidenschaft zu ziehen. Da in der staatlichen Konjunkturpolitik bereits alle Mittel ausgeschöpft seien, bliebe nur noch der Reformweg: Die Bankrotterklärungen kleinerer Finanzinstitute und die Konzentration des Bankwesens könnten zum schnellen Abbau der faulen Kredite und der Gesundung des Finanzsystems führen. Sprenge man darüber hinaus noch die sozialen Fesseln der übrigen Wirtschaft, käme auch die Konjunktur wieder in Schwung.

Wer dagegenhalten will, muß die Lage entdramatisieren. Zwar gaben die japanischen Autohersteller am Donnerstag an, daß ihre Exporte 1996 auf den niedrigsten Stand seit zwanzig Jahren gefallen sind. Allerdings hat sich der Trend längst umgedreht: Schon im letzten Quartal 1996 stieg die Industrieproduktion aufgrund des schwachen Yenkurses, der Exporte billiger macht, so schnell wie seit neun Jahren nicht mehr. Bei Toyota und Nissan werden seither Überstunden geschoben. „Die Autobranche boomt. Wir werden in diesem Jahr eine neue japanische Exportoffensive erleben“, prophezeit Illemann von der Deutschen Bank. Womit angedeutet ist, weshalb es sich die Unternehmen auch im Jahr 2000 noch leisten könnten, die Arbeitslosenquote ihres Landes niedrig zu lassen.

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